Warum Jordan, Bryant, Iverson oder Westbrook keine Shooting Guards sind
Dass sich der Basketball einer ständigen Entwicklung unterzieht, wissen wir alle. Wir haben beobachtet, dass der Drei-Punkte-Wurf ein essentielles Instrument im Repertoire der Liga wurde. Auch dass Tim Duncan eigentlich nicht das Spiel eines Power Forwards lebt, sondern eher ein verkannter Center ist, haben die meisten mittlerweile erkannt. Ebenso haben wir verstanden, dass es keine starren Positionen mehr gibt, in die sich alle Spieler zwängen lassen.
Sebastian Hansen hatte am Anfang der Woche genau hierzu mit Russell Westbrook ein perfektes Beispiel für einen Spielertypen genannt, den die meisten weiterhin als Point Guard einordnen würden, aber dann Probleme mit der Positionsbeschreibung bekommen. Russell Westbrook ist kein selbstloser Ballverteiler, der nur das Auge für den richtigen Pass hat und dem er darum geht, seinen Mitspielern möglichst viele gute Würfe zu bescheren. Natürlich ist er darauf bedacht, die richtige Entscheidung zu treffen und seien Mitspieler einzubinden, aber für einen klassischen Point Guard generiert er zu wenig Touches für seine Mitspieler. Dennoch ist Westbrook einer der Spieler mit dem meisten Impact auf ein Basketballspiel. Das Label eines Playmakers lastet aber auf ihn, gerade weil die Medien immer wieder darauf verweisen, dass er mehr Assists spielen solle. Selbst Teamkollege Durant nimmt Westbrooks Spiel in Schutz:
“Who cares what people say? [He should] just play his game. From watching the last two games, he’s the reason why we had a chance to win — his aggressiveness, getting his teammates involved.”
– Kevin Durant
Die Medien tun Westbrook schlicht Unrecht – und das nur, weil Westbrook zumeist der kleinste Spieler der Thunder auf dem Feld ist und damit automatisch der Floor General der Thunder sein soll, der uneigennützig seine Mitspieler einsetzt. Dabei ist die Rollenbeschreibung von Westbrook als erste Scoring Option, die den ballvortrag initiiert, keine Seltenheit in der NBA. In vielen Facetten ähnelt Westbrook James Harden, Dwyane Wade oder Kobe Bryant. All diese Spieler werden gemeinhin als Shooting Guards betitelt – weil sie zumeist größer sind als zumindest ein Mitspieler. Betrachtet man all diese Spieler isoliert, findet man so viele Gemeinsamkeiten, dass man zwischen dem Point Guard Westbrook und dem Shooting Guard Wade kaum noch Unterschiede finden kann, da beide zudem noch kein besonders gut ausgeprägtes Drei-Punkte-Spiel besitzen. Während man Wade aber für seine Scoring-Explosionen liebt, und dieser sich mit seinen unnachahmlichen Drives in die Herzen vieler Fans spielte, wird Westbrook für dasselbe explosive, spektakuläre Spiel verurteilt.
Sicherlich nennen Harden und Bryant ein perimeterorientierteres Spiel als Westbrook ihr Eigen, aber die Grundvoraussetzungen sind bei allen Spielern gleich: Sie halten den Ball in der Hand und initiieren die Offensive ihres Teams, suchen jedoch vermehrt den eigenen Abschluss.
Deshalb gehören sie auch alle derselben Kategorie an, da sie dieselbe Rolle ausfüllen: Sie sind die primären Ballhandler eines Teams.
Ein Shooting Guard ist kein primärer Ballhandler
Dass man sich nicht schon früher auf diese Begrifflichkeit einigen konnte, ist eigentlich verwunderlich. Wenn wir in die jüngere Vergangenheit blicken, können wir diese untypischen Spieler, die irgendwie keine Point Guards sind, aber doch das Spiel ihrer Mannschaft prägen, indem sie den Ball dominieren, recht schnell ausfindig machen: Es sind die Spieler, die traditionell die meiste Aufmerksamkeit erhalten, weil sie viel punkten. Brandon Roy dürfte noch der unspektakulärste Name sein, der einem einfällt, Allen Iverson, LeBron James oder Michael Jordan kennt so gut wie jedes Kind. All diese Spieler begeisterten die Fans durch ihr Scoring, das als Ausgangsbasis zumeist den Ball in den eigenen Händen bedeutete.
Ebenso wie bei Westbrook hatte Allen Iverson Probleme, sich vom Label eines Point Guards zu lösen. Kritiker warfen ihm immer wieder vor, dass er zu eigennützig spiele; seine Fans verteidigten AI mit den recht hohen Assistzahlen. Das einzige, was man Iverson vorwerfen könnte, wäre seine Ineffizienz mit der inkompatiblen Spielweise, die kaum Raum für einen Co-Star zuließ. Dass Iverson kein Point Guard war, leuchtete schnell Vielen ein. Dass das neue Label „Shooting Guard“ ebenso falsch ist, ist eine Erkenntnis, die eher neu ist. Schließlich standen man bis vor einigen Jahren nur die Auswahl zwischen einem Point und einem Shooting Guard als legitime Bezeichnung zur Verfügung. Schnell war ausgemacht, dass Iversons Scoring sich nicht mit der Positionsbeschreibung eines Spielmachers deckte, also klebte man ihm das Label eines Shooting Guards auf, weil er schließlich scorte. Heute ist relativ klar, dass er keines von beidem ist, weil ein Shooting Guard ein klassischer Off-Guard ist, der eben nicht den Ball in den Händen hält. Iverson war damals schon der primäre Ballhandler seines Teams – und diese Rolle beschreibt das Aufgabenfeld präziser als es die Positionsbezeichnungen könnten.
Die anderen genannten Spieler erhielten hingegen Lopreisungen für ihr – für ihre Position – großartiges Ballhandling. Dies klingt paradox – ist es auch. Schließlich gehören alle Spieler zu derselben Kategorie: Sie sind die besten Ballhandler ihres Teams und deshalb entschied der Coach, dass der Spieler mit den besten Fähigkeiten den Ballvortrag übernehmen sollte. Um im Sprachduktus der Positionsbeschreibungen zu bleiben: Obwohl Jordan, James oder Bryant nicht die kleinsten Spieler auf dem Feld waren, machte der Coach sie zu den Point Guards. Sie sollten als Playmaker fungieren, die Offense initiieren und das Spiel so lenken, dass das Team den größtmöglichen Erfolg haben konnte. Das bedeutet folglich auch, dass weder Kobe Bryant noch Michael Jordan Shooting Guards sind und es auch nie waren. Im Rollenschema erkennt man dies relativ schnell, wenn man versucht, Playmaker, Wings und Bigs zuzuweisen. Keiner der Spieler auf dem Feld eignete sich besser als Playmaker als Jordan oder Bryant. Die Faszination dieser Spieler hat denselben Ursprung: Sie hatten ein exzellentes Ballhandling und Decision Making, sodass man ihnen den Ball anvertraute – und dies gilt für alle Spieler, die als primäre Ballhandler auflaufen, obwohl sie groß gewachsen sind. Sucht man also Vergleiche für einen bestimmten Spielertypen wie Jordan, werden dies nie Shooting Guards sein, denn diese sind per Positionsbeschreibung Off-Guards, die abseits des Balls agieren. Ihre Rolle ist die eines Flügels oder Wings, aber Jordan war dies niemals in seiner Karriere. Er war immer der Playmaker, immer der primäre Ballhandler.
Unterschiedliche Auslebung der Rolle des Ballhandlers
Die Abgrenzung zwischen primärem Ballhandler und off-Ball-Spielern ist relativ eingängig und trennscharf. Dennoch landen nach der Sortierung sowohl Westbrook, Iverson, Jordan oder Bryant in der Rolle des primären Ballhandlers als auch John Stockton, Chris Paul, Rajon Rondo oder Magic Johnson. Auf den ersten Blick ist diese Gruppe heterogen, man kann sie nicht zusammenfassen. Die Ausgangslage ist jedoch bei allen Spielern gleich: Wenn ihr Team in Ballbesitz gelangt, geht der Ball möglichst schnell zu ihnen. Sie initiieren die Offense, bestimmen, welches Play gelaufen wird, und treffen die Entscheidungen. Trotzdem füllen sie die Rolle anders aus, weil ihr Spielverständnis andere Prioritäten hat. Es lassen sich grob zwei Lager ausmachen: klassische Spielmacher, die darauf vertrauen, dass sie mit ihrem Passspiel und ihrer Courtvision ihre Mitspieler bestmöglich einsetzen; Scorer, die aufgrund ihres Ballhandlings und ihrer Scoringfähigkeit zumeist den eigenen Abschluss forcieren.
Dennoch eint all diese Spieler die Gemeinsamkeit, dass sie als Gehirn der Offense genutzt werden. Sie sollen entscheiden, wie das Team zum Erfolg kommt. Ob dies nun durch einen raffinierten Bounce-Pass oder durch einen Fake und einen unnachahmlichen Drive geschieht, ist unerheblich. Basketball ist ein Spiel, das so komplex ist, sodass es immer mehr als eine Lösung gibt. Wichtig ist nur das Ergebnis des primären Ballhandlers: Kann er das Team zum Sieg führen? Von daher ist die Gruppe zwar zu Teilen heterogen, aber dennoch nicht unvereinbar. Es sind letztlich andere Philosophien der primären Ballhandler.
Fazit
Der primäre Ballhandler kann theoretisch auf jeder Position des klassischen Zuweisungssystems aufgestellt werden. Deshalb ist es so wichtig, von den starren Positionen abzuweichen und das Spiel zu beobachten. LeBron James hat als nomineller Power Forward das Spiel der Miami Heat gelenkt; Jordan bei den Bulls hatte neben sich immer einen Off-Guard auf der Eins, sodass er der primäre Ballhandler, nicht der Shooting Guard war; Allen Iverson war auch neben Eric Snow kein Shooting Guard; Brandon Roy übernahm das Ballhandling neben Steve Blake. Russell Westbrook ist der nächste Ballhandler in dieser Reihe, der die Geschicke seiner Franchise lenkt.
Der Spieler muss den größtmöglichen Impact haben, um sein Team zum Erfolg zu führen. Dabei ist es egal, ob derjenige vornehmlich scort oder seine Mitspieler einsetzt. Eines eint sie alle: Sie übernehmen die Verantwortung für ihr Team, da sie der Kopf des Teams sind. Sie prägen die DNA des Teams, denn ihre Philosophie überträgt sich auf das gesamte Konzept. Sie bestimmen, was mit dem Ball in ihren Händen geschieht. Sie sind die primären Ballhandler ihrer Franchise.