Über Mythen, wie man in den Playoffs gewinnt
Es gibt verschiedene Klischees, was es in der NBA braucht, um Meister zu werden. Gerne wird Defense oder schlicht ‚Toughness‘ gefordert – umgekehrt galten Teams mit Fokus auf Jump Shots gerne als ‚soft‘ und damit Postseason-ungeeignet. Zumindest dieser Punkt sollte dank der Warriors und auch der Cavs von 2016 unter die Mythen abgelegt werden. Gerade in Bezug auf Cleveland um LeBron James hieß es dafür oft, dass meist das Team mit dem individuell besten Spieler auch die Serie gewinnt. Ähnlich ist Erfahrung ein beliebtes Argument für die etablierten Playoffteams, weswegen etwa den Bucks und Nuggets trotz ihrer guten Bilanzen diese Saison eine vergleichsweise große Skepsis entgegengebracht wurde. Diese Diskussionen geben Anlass für einen genaueren Blick auf die beliebtesten Klischees: Treffen einige davon wirklich zu?
Keine Chance auf Upsets?
Das beste Team gewinnt meistens – dieser Satz klingt so banal, dass man kaum über darüber nachdenken würde. Aber er ist in diesem Zusammenhang nicht zu unterschätzen. Denn wenn ein Team die bessere Defense, mehr Erfahrung und den besten Spieler hat, dann gibt es keine sinnvolle Möglichkeit, den Einfluss jedes einzelnen Faktors zu messen. Favoritensiege sind also für diese Analyse relativ sinnlos. Das ist in der NBA ein überraschend großes Problem, weil es die Datenbasis massiv reduziert. In kaum einer anderen Sportart ist die Chance auf Upsets so gering. Das liegt einerseits an der hohen Zahl an Spielen sowohl in der Regular Season als auch pro Playoffrunde, zum anderen an der hohen Anzahl an Possessions pro Spiel. Dazu finden sich verschiedene statistische Untersuchungen, die zwar nicht immer zu den gleichen Ergebnissen kommen, aber doch klare Tendenzen abbilden. In Fußball, Football und Hockey gibt es beispielsweise viel weniger entscheidende Szenen pro Spiel. Außerdem werden KO-Runden in den NFL-Playoffs oder in internationalen Wettbewerben im Fußball meist in einem oder zwei Spielen entschieden. Somit ergibt sich für die NBA eine deutlich geringere Bedeutung von Zufallsfaktoren – über eine höhere Zahl von ‘Versuchen’ wird sich mit größerer Wahrscheinlichkeit der Favorit durchsetzen.
Das Ergebnis ist, dass es in den letzten Jahren kaum bemerkenswerte Upsets oder überraschende Playoff-Runs gab. Seit der Mavs-Meisterschaft 2011 – die aus verschiedenen Gründen eine Art Epochenwechsel kennzeichnete – standen gerade zwei Teams in den Finals, die nicht einer der beiden Top-Seeds ihrer Conference waren: Eben die Mavs, die allerdings mit der gleichen Siegzahl wie die zweitplatzierten Lakers in die Postseason gingen, und die Cavs von 2018. Das gilt ähnlich auch für einzelne Serien: Lässt man Siege des 5. gegen den 4. oder des 3. gegen den 2. außen vor, bleibt ebenfalls nur eine kleine Zahl an Beispielen. Die Niederlagen der Bulls 2012 und der Thunder 2013 wurden zudem noch durch Verletzungen massiv beeinflusst. Nach diesen Kriterien bleiben vier Serien seit 2011: Der Sieg der Grizzlies gegen die Spurs 2011 (8 vs 1) sowie die 6 vs 3-Siege der Warriors gegen die Nuggets 2013, der Nets gegen die Raptors 2014 und der Pelicans gegen die Blazers 2018.
Gewinnt die Erfahrung?
Welche Ergebnisse lassen sich also aus diesen Serien ziehen? Gerade der Blick auf die beiden überraschenden Finalisten lässt die Vermutung aufkommen, dass Erfahrung eine Rolle spielen könnte. Die Mavs von 2011 zählten wie die Cavs 2018 zu den ältesten Teams der Saison, und insbesondere die Cavs galten als deutlich erfahrener als ihre junge Konkurrenz. Den letzten Fall bestätigen auch die Zahlen: Die in der Regular Season besser platzierten Raptors, Celtics und Sixers waren im Schnitt 25,5 bis 25,8 Jahre alt, die Cavs 28,9. Die Meister-Mavs waren aber sogar jünger als die Lakers (29,4 zu 29,5), und auch den Spurs von 2011 um Tim Duncan, Manu Ginobili und Tony Parker kann kaum fehlende Erfahrung zugeschrieben werden. Trotzdem verlor das Team schon in der 1. Runde gegen die deutlich jüngeren Grizzlies (25,2 zu 27,6). Aus der Summe der Fallbeispiele ergibt sich trotzdem ein kleiner Altersvorsprung für die Teams, denen der Upset gelang (27,7 zu 26,4). Die Nets von 2014 um Paul Pierce, Joe Johnson und Deron Williams bestätigen dieses Bild ebenfalls mit einem Alters-‚Vorteil‘ von 29,2 zu 26,5 gegen die Kyle Lowry/DeMar DeRozan-Raptors. Der Unterschied wirkt hier sogar noch zu klein: Nimmt man jeweils die fünf Spieler mit den meisten Minuten in den Playoffs, stehen die Raptors bei nur noch 24,4 Jahren im Schnitt, die Nets bei 31,2.
Diese Zahlen verdeutlichen das Problem, Erfahrung überhaupt zu quantifizieren. Sollte der ganze Kader berücksichtigt werden oder nur die Schlüsselspieler? Zählt das Alter, die Jahre in der NBA oder die gewonnenen Playoffrunden? Können einzelne Veteranen ihre Erfahrung weitergeben? Hier sind mathematische Annäherungsversuche zwar möglich, aber aufwändig und auch dann nur begrenzt aussagekräftig. James Tarlow untersuchte die Frage aus verschiedenen Perspektiven (und mit einem älteren, größeren Datensatz) für die Sloan Sports Conference. Er diagnostizierte eine geringe Relevanz der Spieler-Erfahrung verglichen mit der Zeit, die sie im gleichen Team waren, betont aber die Bedeutung von Playoff-Erfahrung für Coaches. Insgesamt bleibt also ein relativ diffuses Bild: Ganz bedeutungslos ist Erfahrung mit Sicherheit nicht, sie kann aber auch nicht ohne weiteres als zentraler Faktor ausgemacht werden. Außerdem bleibt noch das Problem, dass die Kausalität möglicherweise eher umgekehrt in einer Underperformance älterer Teams in der Regular Season zu suchen wäre – sowohl Verletzungsprobleme als auch geringere Motivation sind realistisch, wie etwa die Cavs 2018 zeigen.
Defense wins Championships?
Ähnlich häufig findet sich die Aussage, dass Defense der entscheidende Schlüssel zur Meisterschaft wäre. Dafür lässt sich das Argument anführen, dass in den Playoffs die Intensität steigt und damit ohnehin härter spielende Teams mehr in ihrem Element wären. Diese Überlegung hat anders als der wahllose Vorwurf der ‚Softness‘ bestimmter Spieler oder Teams zumindest ihre Berechtigung. Allerdings zeigt die Postseason natürlich auch die Grenzen von Hustle auf: Wenn alle Teams härter spielen, verlieren die Regular Season-Teams mit der höchsten Intensität ihren Vorteil. Dazu kommt, dass die längeren Pausen zwischen den Spielen denjenigen entgegenkommt, denen in der Regular Season die Energie für volles Engagement in der Defense fehlt. Daher scheint dieser Mythos recht leicht zu widerlegen, wie auch einzelne Studien dazu zeigen.
Für die hier thematisierten Upsets gilt das ebenfalls: Die Favoriten waren in den meisten Fällen das bessere Defensivteam. Besonders auffällig ist das im Fall der Cavs 2018, die als zweitschlechteste Verteidigung der Liga in die Postseason gingen – während ihre direkte Konkurrenz aus Toronto, Boston und Philadelphia allesamt in der Top 5 zu finden war. Für die übrigen Beispiele gilt ähnliches, in keinem Fall war der überraschende Sieger signifikant besser in der Defense. Im Durchschnitt trifft sogar das Gegenteil zu: Die Favoriten waren um gut 8 Plätze defensiv besser als ihre Gegner, aber nur knapp 3 offensiv. Das liegt allerdings zumindest in der Höhe hauptsächlich an den defensiv so miserablen Cavs der letzten Playoffs, weswegen die Aussagekraft sehr begrenzt ist. In den übrigen Beispielen haben die niedrigeren Seeds im Schnitt eine jeweils ähnlich schlechtere Defense und Offense. Trotzdem lässt sich festhalten, dass Defense wohl kein besserer Indikator für Postseason-Erfolg ist als Offense.
Der beste Spieler gewinnt?
Auch hier besteht das offensichtliche Problem, dass das Team mit dem besten Spieler meistens auch das bessere Team ist und daher als Favorit in eine Playoffserie geht. Die beiden auffälligsten Gegenbeispiele stammen aus dem letzten Jahr: Den Cavs und Pelicans gelangen vor allem dank ihrer Stars LeBron James und Anthony Davis die Upsets. Für die Cavs gilt jedoch erneut die Einschränkung, dass sie nicht wirklich Außenseiter waren – und bei Davis ist eher bemerkenswert, dass ihm nur genau dieser eine Seriensieg in seinen Jahren in New Orleans gelang. Ansonsten ist in den anderen Beispielen meist die Frage, welchen Maßstab man für ‚bester Spieler‘ anlegt. Ein Beispiel: Die Mavs gewannen ihre Meisterschaft 2011 in Playoffserien gegen Kobe Bryants Lakers, Kevin Durants Thunder und LeBron James‘ Heat. Vermutlich würde die Mehrheit der Fans Dirk Nowitzki über die gesamte Karriere hinweg als den schlechtesten der vier Spieler sehen. In den Playoffs 2011 brachte Nowitzki allerdings herausragende Leistungen aufs Parkett, während keiner der übrigen Stars seine größten Momente erlebte. Ist also die Form des jeweiligen Jahres oder die Leistungen über die Karriere entscheidend? Ähnlich schwierig ist der Warriors-Upset über die Nuggets 2013 einzuschätzen: Stephen Curry ist zwar klar der namhafteste Spieler, war aber noch nicht annähernd auf dem Level, das er zwei Jahre später erreichte. Entsprechend kann auch hier kein richtiges Ergebnis am Ende der Überlegungen stehen – es ist nicht so, als hätten Spieler auf MVP-Niveau in den letzten Jahren reihenweise bessere Regular Season-Teams ohne echten Superstar geschlagen.
In einer abgeschwächten Version trifft die These allerdings mit Sicherheit zu: In den Playoffs zählt Tiefe weniger. Das lässt sich mit den Upsets zwar nicht direkt belegen, ist aber schon durch die allgemein übliche Minutenverteilung ersichtlich. Die Starting Five erhält meist deutlich mehr Spielanteile, die Rotation wird bei vielen Teams von ungefähr 10 auf etwa 8 Spieler gekürzt. Wer nicht auf dem Parkett steht, kann auch keinen Einfluss auf das Geschehen nehmen – soweit, so klar. Allerdings sind die praktischen Folgen schwerer auszumachen: Reicht eine solide Rotation von acht Spielern wirklich, trotz sicher nicht ausbleibender Verletzungen? Was sind die Folgen für Teams mit starker Starting Five, aber ohne solide Ersatzleute wie etwa dieses Jahr die Sixers? Das heißt: Können die Einsatzzeiten der schwächsten Spieler überbrückt werden, oder werden sie gerade zum Ziel? Das kann vermutlich nur die Praxis zeigen.
Fazit
Die Ergebnisse klingen auf den ersten Blick etwas ernüchternd, weil nicht immer eine eindeutige Aussage möglich ist. Erfahrung spielt isoliert keine so große Rolle, ist aber trotzdem nicht ganz zu vernachlässigen. Defense und Offense sind beide ähnlich wichtig. Der bessere Spieler oder die kürzere Rotation stellen einen Vorteil dar, der sich aber kaum bemessen lässt. Vielleicht ließen sich diese Ergebnisse mit einer ausführlicheren Untersuchung präzisieren, also etwa unter Einbeziehung aller Playoffserien der letzten Jahre. Aber eigentlich sind diese Resultate schon recht aussagekräftig: Keiner der Mythen hat sich wirklich halten lassen, indem sich zahlreiche Upsets darauf zurückführen ließen. Stattdessen ist das wichtigste Ergebnis: In der NBA gewinnt meistens das bessere Team, echte Upsets sind äußerst selten. Das klingt angesichts der Warriors-Dominanz der letzten Jahre nicht gerade ermutigend, wenn man auf Abwechslung in den aktuellen Playoffs hofft. Andererseits: Zumindest rechnerisch waren die Bucks in der Regular Season besser…