Wer ist nach derzeitigem Stand der wertvollste Spieler der Liga?
Das MVP-Rennen ist so spannend wie lange nicht und entsprechend heiß diskutiert. Letzteres wird sicher auch für die eigentliche Verleihung eine Rolle spielen, schließlich haben die Medien einen großen Einfluss auf die Entscheidung. Gerade abseits des Hypes stellt sich aber wie bei allen Auszeichnungen die Frage, welche Kriterien überhaupt anzulegen sind – reines Volumen, Bilanz, Effizienz, On-Off-Zahlen, Advanced Stats? Muss der wertvollste Spieler auch unbedingt der Beste sein? Anlässlich der naheliegenden Kandidaten werfen vier Redakteure die Argumente für ihren Pick in den Ring.
LeBron James
Julian Wolf: LeBron James ist der MVP 2016/17. Er ist – schlicht im Wortsinn der Auszeichnung – der wertvollste Spieler der NBA, derjenige, der die meiste Verantwortung für die Siegchancen seines Teams trägt. Das bedeutet nicht, dass er den höchsten statistischen Output hat oder die meisten zählbaren Basketball-Plays liefert. Sicher sind seine 25,9 PPG, 8,1 RPG und 8,9 APG bei 53,9% FG Allroundstats auf allerhöchstem Niveau. Trotzdem bleibt er, verglichen mit der absoluten Liga-Elite, in den meisten statistischen Kategorien nur im Mittelfeld. Zieht man etwa das Quartett Westbrook-Leonard-Harden-James zum Vergleich heran, legt LeBron von diesen die wenigsten Punkte und nur die drittmeisten Rebounds und Assists auf. Dabei spielt er mit 37,6 MPG sogar die meisten Minuten der vier (was, wenn man länger darüber nachdenkt, eingentlich unfassbar ist…). Auch bei komplexeren Statistiken wie dem Ortg (118) oder den Win-Shares (9,6) liegt er nur auf dem 3. Platz in dieser Gruppe. Aber, jetzt kommt der Punkt: Statistiken sind beim Basketball eben nicht alles.
Kein anderer Spieler der Liga hat einen größeren Einfluss auf das Spiel seines Teams – auf dem Feld und abseits davon. James Präsenz eröffnet Räume und er beeinflusst jeden Aspekt eines Basketball-Spiels; wohl kein Spieler der Liga ist besser darin, die Talente seiner Mitspieler zu maximieren. Clevelands ganzes Spielsystem mit eindimensional begabten Spielern (Korver, Frye, Shumpert, Thompson, Jefferson) beruht auf den Räumen, die James ihnen dank seines Basketball-IQs verschafft. Und dass er oft Kyrie Irving in der Crunchtime den letzten Wurf überlässt? Zeigt ebenfalls, wie wertvoll der Spieler James ist: Er wählt schlicht die Option, die für sein Team am Besten ist. Auch die Defense ist mit James auf dem Feld übrigens um 2,0 Punkte/100 Ballbesitze besser – so viel zum Vorwurf, James schone sich in der Verteidigung.
Dazu hält er den Laden in Cleveland zusammen: Ja, Golden State scheint übermächtig, ja, die Konkurrenten in der Eastern Conference rüsten auf – aber die Cavaliers haben LeBron. Eben diesen einen Spieler, der beinahe jedes Team der Liga im Alleingang zu einem Top-Team machen würde. Allein der Glaube an übermenschliche Performances von James wie in den Finals 2016 trägt die Cavaliers durch ihre Saison. Wirkliche nachhaltige Krisen durchläuft das Team seit James Rückkehr nicht, obwohl die Ergebnisse diese teilweise nahelegen würden.
All das belegen James‘ On-Off-Werte in dieser Saison: Ein um 13,8 Punkte besseres Net-Rtg haben die Cavaliers pro 100 Ballbesitze mit ihm als ohne ihn. Von den anderen drei Kandidaten kommt nur Russell Westbrook (+13,6) auch nur annähernd in diese Regionen; Harden (1,3) und Leonard (0,4) sind weit abgeschlagen. 5 Spiele hat James in dieser Saison bisher verpasst – und alle gingen verloren! Zieht man die Spiele ab, in denen auch Love und/oder Irving gefehlt haben, bleiben trotzdem wenig ruhmreiche Niederlagen gegen Indiana (-10), Detroit (-16) und Chicago (-18). Ohne James bricht in Cleveland alles zusammen, was zeigt, wie wichtig er als Leader für diese Mannschaft ist. Seit seiner Rückkehr zu den Cavaliers steht das Team ohne ihn bei einer Bilanz von 5-20! Was Lebron James letztlich zum MVP macht, ist seine Fähigkeit, für Siege zu sorgen.
Zu guter Letzt stellt sich die Frage, die einen wahren MVP für mich ausmacht: Welchen Spieler möchte ich für die nächste Saison/die nächste Serie/das nächste Spiel/das nächste Play im Kader haben, ausgeklammert alle anderen Faktoren wie Mitspieler oder langfristige Planungen? Die Antwort lautet immer gleich – und sie ist nicht Russell Westbrook oder Kawhi Leonard…
Russell Westbrook
Sebastian Hansen: 31,7 Punkte. 10,7 Rebounds. 10,1 Assists. Pro Spiel. Was sich wie die Statline einer besonders guten Woche eines besonders guten Spielers anhört, liefert Russell Westbrook in dieser Saison in der NBA tagtäglich ab. 30 Triple-Doubles hat der Guard der Oklahoma City Thunder dabei auf der Habenseite und ist damit nur noch eines von Wilt Chamberlain entfernt, der in den 60er-Jahren 31 in einer Saison erreichte und damit zurzeit den zweiten Platz für die meisten Triple-Doubles in einer Saison belegt. Zum derzeit Führenden Oscar Robertson fehlen Westbrook noch insgesamt elf Triple-Doubles.
Unschwer zu erkennen: Russell Westbrook hat in dieser Saison Historisches geleistet. Doch auch abseits der im Boxscore herausstechenden Triple-Doubles ist die Leistung Westbrooks absolut MVP-würdig. Die Oklahoma City Thunder in diesem Jahr sind Russell Westbrook – mit ihm steht man auf einem sicheren Playoff-Platz, ohne ihn würde man sich wahrscheinlich trotz eines jungen, hungrigen Teams mit Sixers, Lakers und Nets um die meisten Kugeln in der Draftlottery prügeln. Dabei hält er das Team vor allem durch seine Fähigkeit zu scoren über Wasser – und das, obwohl das Spacing der Thunder eher suboptimal und Westbrook ein Spieler ist, der freie „Driving lanes“ benötigt. Die schon erwähnten 31,7 PPG sind zurzeit der Spitzenwert der NBA, Westbrook könnte sich damit seinen zweiten Scoring-Titel nach 2014/15 sichern. Zwar hat seine Effizienz unter der Last, ein ganzes Team offensiv größtenteils alleine tragen zu müssen, etwas gelitten – sein ORtg beträgt nur noch 110 statt 115 im Vorjahr – doch diese Tatsache muss immer im Kontext betrachtet werden: die USG% Westbrooks ist mit 41,2% die höchste aller Zeiten (mindestens 41 Spiele) und 3,3% höher als der bisherige Bestwert, aufgestellt vor elf Jahren von Kobe Bryant. Eine absurd hohe USG%, die noch einmal verdeutlicht, wie groß die Last ist, die Westbrook Abend für Abend schultert.
Trotz der dominanten Scoring-Rolle macht Westbrook auch seine Mitspieler besser. So legt Victor Oladipo beispielsweise ohne Westbrook lediglich 0,96 PPP auf, mit ihm dagegen 1,17 PPP. Auch die Produktion von Spielern wie Steven Adams oder Jerami Grant steigt mit Westbrook auf dem Court Sprunghaft an. „Ist ja klar, dass man mit einem Superstar auf dem Feld besser ist“, werden jetzt einige einwenden. Das Argument ist natürlich nicht unrichtig, doch Westbrook legt dieses Jahr auch die dritthöchste Assistrate auf – aller Zeiten, wohlgemerkt. 56,1 % aller Korberfolge seiner Mitspieler hat Westbrook assistiert, wenn er auf dem Feld war. Nur John Stockton war jemals besser. Dazu kommt mit 34,1% (6,7 Versuche) eine Dreierquote, die in Zeiten von Stephen Curry zwar niemanden vom Hocker reißt, aber dennoch bei weitem ein Career-High für Westbrook darstellt.
Einzig beim Teamerfolg hat Westbrook gegenüber seinen Konkurrenten das Nachsehen. Doch sowohl James Harden, als auch – natürlich – LeBron James und Kawhi Leonard verfügen über weitaus bessere Teams als Westbrook, dessen Thunder sich in Jahr eins nach Kevin Durants Abgang gerade erst neu sortieren und darüber hinaus eines der jüngsten Teams der Liga stellen. Zudem sind die Thunder zurzeit auf Playoffkurs, was durch Westbrooks monströse individuelle Leistungen erst möglich gemacht wird. Der MVP ist ja nicht nur ein Award für die beste persönliche Leistung – die Westbrook in dieser Spielzeit zweifellos erbringt – sondern qua Name auch einer, der den Wert des Spielers für das Team wiedergeben soll. Auch hier liegt Westbrook aus den schon genannten Gründen ganz weit vorn. Der Teamerfolg als dritte Komponente wird von den anderen Leistungen deutlich überstrahlt.
Die historische Performance Westbrooks in diesem Jahr sollte also gewürdigt werden. Eine Verleihung des MVP-Awards an den Guard wäre deswegen nur folgerichtig und konsequent.
Kawhi Leonard
Nicholas Gorny: Schauen wir uns ein klassisches Auswahlkriterium zur MVP-Wahl an: Teamerfolg. Die drei besten Teams mit klarem Contenderstatus dieser Saison sind die Golden State Warriors (51-11), die Cleveland Cavaliers (42-19) und die San Antonio Spurs (48-13). In der Bay Area hat das erfolgreich konstruierte System des Superteams gezeigt, dass ein Team um Stephen Curry, Klay Thompson, Draymond Green und der in der Off Season unter Vertrag genommene Kevin Durant dominieren kann. Im Osten sehen wir ein ähnlich dominantes Konstrukt um LeBron James, dem vor seiner Verletzung stark verbesserten Kevin Love und Kyrie Irving.
Das Team, das sich klangheimlich auf dem Weg zu 65 Siegen befindet und lediglich 2 Spiele hinter den übertalentierten Warriors in der Western Conference sind die San Antonio Spurs. Beim Betrachten des Rosters der Spurs sehen wir vor allem eines: Kawhi Leonard. Leonard ist der Grund warum ein Team mit einer grossen Umstrukturierung im Sommer auf dem Weg ist die deutlich talentierteren Teams der Konkurrenz hinter sich zu lassen. 10.8 Win Shares (Platz 3 ligaweit; .276 WS/48) sprechen eine deutliche Sprache. Angelastet wurde Leonard vergangenes Jahr zumeist das offensive Volumen und die fehlende Selbstständigkeit bei dem Kreieren eigener Abschlüsse. Genau diese Punkte hat Leonard in dieser Saison auf ein Toplevel gehievt. Untersucht man den reinen Scoring-Output findet man bei Leonard imposante Zahlen. 28.0 Punkte bei 50% aus dem Feld, 38% von der Dreierlinie (bei fast sechs Versuchen) sowie 86% von der Freiwurflinie (41.7 FTr). Das Ganze bei einem 121 ORtg, einer TOV% von 8.8% sowie einer Usage von 33.2%. Das ist Kawhi Leonard im Jahr 2017. Auch auf die Saison betrachtet (16/17: 26.2 ppg; 61.2 TS%; 121 ORtg) sind das Zahlen die man als offensiv elitär bezeichnen muss. Schaut man im MVP-Kandidatenfeld auf den offensiven Output, muss sich Leonard nicht verstecken. Nun unterscheidet Leonard von dieser Gruppe ein Aspekt, welcher bei all den statistisch imposanten Offensiv Explosionen die diese Saison gezeigt wurden bei der MVP-Wahl gerne vernachlässigt wird: Defense.
Kawhi Leonard zeigt trotz der enorm gestiegenen offensiven Belastung dominante Defensivleistungen. Einen Spieler, der sich zu dem gezeigten Offensivoutput zusätzlich im Kandidatenkreis des DPOY wiederfindet, sucht man im MVP-Teilnehmerfeld abseits von Leonard vergebens. Leonard ist auch dieses Jahr der beste Defensivspieler der besten Defense der Liga. Die Defense, die in der Offseason einen der besten Defensivspieler aller Zeiten verloren hat. Leonard verteidigt auch in dieser Saison den gefährlichsten Scorer des Gegners, ist eine ständige Gefahr in den Passwegen (16/17: 203 Deflections und 106 Steals) und der defensive Lautsprecher im Teamverbund. Leonards Defense ist auf einem Level, dass sie Spiele nicht nur konstant positiv beeinflusst sondern sie entscheidet. Das resultiert kombiniert mit dem aufgezeigten offensiven Output in einem Gesamtpaket, welches man nicht nur auf die juengste Vergangenheit bezogen äußerst selten in der Liga-Historie vorfindet.
Diese Qualitäten auf der defensiven Seite des Feldes heben Leonard entscheidend von seinen Mitstreitern ab. Simpel formuliert: Leonards Offensivspiel befindet sich auf einem ähnlichen Niveau wie dem seiner Konkurrenten. Der Unterschied ist gering. In der Defensive hingegen ist der qualitative Unterschied eklatant. Der einzige Spieler, der auf der defensiven Seite des Spiels ein ähnliches Niveau zeigen kann, ist LeBron James. Dieser präsentiert jedoch gerade in der Regular Season bei weitem nicht die Konstanz Leonards. Russell Westbrook und James Harden zeigen sich, diplomatisch gesagt, nicht ansatzweise auf diesem Level.
Bezieht man bei der Auswahl des MVPs die Kriterien Teamerfolg und die defensive Leistungsfähigkeit mit ein und betrachtet dann addiert mit der Offensive ein Gesamtpaket, ist Kawhi Leonard der logische und konsequente MVP 2017.
James Harden
Julian Lage: Die Houston Rockets sind zweifellos eines der Überraschungsteams der Saison, nachdem die hohen Verträge für Ryan Anderson und Eric Gordon im Sommer auch von uns hart kritisiert wurden. Jetzt steht das Team allerdings bei der drittbesten Bilanz ligaweit – nur die Warriors und Spurs sind klar besser, die Cavs liegen nach Sieg-Percentage knapp dahinter. Dieser Wert war in den letzten Jahren fast immer ein zentrales Kriterium für die Wahl der MVPs. In einigen Fällen mögen Topspieler mit miserablem Supporting Cast von diesem Anspruch benachteiligt sein, aber an sich ist die Logik dahinter überzeugend: Der wertvollste Spieler der Liga sollte auch einem der erfolgreichsten Teams angehören. Allerdings wurde einigen Top-Stars der letzten Jahre, vor allem LeBron James und Kevin Durant mit jeweils beiden Franchises, zu viel Qualität innerhalb des eigenen Teams negativ ausgelegt – schließlich liegt die Verantwortung auf mehreren Schultern.
Die etwas widersprüchliche Forderung nach sowohl einer Top-Bilanz als auch einem relativ schwachen Supporting Cast ist jedoch nicht immer einzulösen. James gewann beispielsweise auch mit den Heat noch zwei MVP-Trophäen, weil es keinen qualitativ vergleichbaren Konkurrenten mit weniger Unterstützung gab. Diese Saison überragt allerdings kein Spieler mehr so eindeutig die Liga, dass nicht in James Harden der Spieler die Auszeichnung erhalten könnte, auf den die beiden Forderungen zutreffen. Während Warriors, Cavs, Spurs und selbst die Clippers mehrere Spieler auf Allstar-Niveau aufweisen, ist Harden ähnlich wie bei den (von der Bilanz her deutlich schlechteren) Thunder Russell Westbrook weitgehend Alleinunterhalter. So positiv Gordon, Anderson und Co. auch überraschen mögen – sie sind weit von echtem Star-Niveau entfernt. Entsprechend stark ist die Rockets-Offense auf Harden und seine Stärken zugeschnitten. Die Anpassungen für die aktuelle Saison dürften Mike D’Antoni einen Coach of the Year-Award einbringen, aber Harden selbst verdient eine Auszeichnung mindestens genauso sehr.
Hardens Leistung in Zahlen: Nach Westbrook und Isaiah Thomas erzielt er die drittmeisten Punkte der Liga, ist Westbrook aber in Sachen Effizienz klar voraus (ORtg: 118 zu 110). Gleichzeitig legt Harden die meisten Assists ligaweit (11,3) auf und sorgt damit für die zweitbeste Offense der Liga nach Team-ORtg. Besonders im Vergleich zu Westbrook und Leonard spricht das Verhältnis individueller Offensive zu Team-Offense für Harden: Die Rockets sind zwar auch defensiv besser als erwartet (Rang 14), leben aber trotzdem in erster Linie von ihrem Scoring. Spurs und Thunder sind dagegen defensiv jeweils besser als offensiv. Die angesprochenen Gordon und Anderson sowie neuerdings Lou Williams tragen zwar zur Offense-lastigkeit der Rockets bei, profitieren dabei aber ganz wesentlich von Harden: Letztes Jahr, als beide noch bei den Pelicans spielten, lag ihr Team trotz Anthony Davis im unteren Mittelfeld (Rang 18). Harden liefert also genau das, was von ihm erwartet wird, und macht dabei noch seine Mitspieler besser. In einem vergleichbaren Maß kann das höchstens noch LeBron James für sich beanspruchen, die Cavs haben jedoch das allgemein bessere Team und trotzdem eine schlechtere Bilanz – und James individuelle Statistiken sind auch weitgehend schlechter. Daher führt kein Weg am Star der Rockets vorbei.