Zahlen und ihre Grenzen
In den letzten Jahren hat sich der Zeitgeist in der Basketballwelt und vor allem in der NBA deutlich verändert. Während vor einiger Zeit die Devise, dass Zahlen keine Aussagekraft im Basketball haben, die vorherrschende öffentliche Meinung war, hat der Wandel dazu geführt, dass selbst einfache Fans und Schreiberlinge wissen, dass man Gefahr läuft, nicht mehr ernst genommen zu werden, wenn man die Zahlen komplett ausblendet.
Die Franchises investieren zunehmend in quantitative Methoden zur Leistungsmessung. Während früher ehemalige Spieler zu Entscheidungsträgern im Management gemacht wurden, ist heutzutage niemand mehr überrascht, wenn eine Person die Federführung übernimmt, die selbst kaum bis keine eigene Basketballerfahrung mitbringt und vermutlich keinen einfachen Korbleger im Ring versenken könnte. Die Affinität von Daryl Morey, dem General Manager der Houston Rockets, zu Zahlen dürfte den meisten Lesern hinlänglich bekannt sein, die Philadelphia 76ers haben Sam Hinkie, ebenfalls einem Freund der Zahlen und die ehemalige rechte Hand von Morey, den obersten Posten im Management gegeben. Dieselbe Marschrichtung hat Tim Connelly bei seinem Antritt als neuer General Manager der Denver Nuggets vorgegeben – und auch einen Mann aus der Talentschmiede von Morey als Assistant-General Manager unter Vertrag genommen: Arturas Karnisovas. Mark Cuban und seine Dallas Mavericks glänzten zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch oftmals mit Gehaltsexzessen bei der Kaderbildung bis auch dort erkannt wurde, dass das bloße Zusammenkaufen teurer Spieler kein Weg zum Erfolg ist und stattdessen mehr Investitionen in die Leistungsmessung gesteckt wurde und bekannte Namen des statistischen Basketballs wie Roland Beech ins Team geholt wurden. Die Ernennung von Gersson Rosas, der – welch Überraschung – auch zum Team Morey gehörte und nun wieder gehört, zum General Manager sollte die Entwicklung bei der Franchise verstärken, allerdings war die Liaison von sehr kurzer Natur.
Gründe für die Nutzung von Zahlen
Den Grund, weshalb Statistiken Anwendung finden sollten, hatte Dennis Spillmann bereits vor einiger Zeit in einem Artikel thematisiert. Immer mehr Leute fügen sich dem Zeitgeist und erkennen die Nützlichkeit an, die der legendäre Dean Smith, ehemaliger Trainer von den North Carolina Tar Heels, bereits vor mehr als 30 Jahren sah, von absoluten Zahlen abkehrte und sich auf ‘per possession’-Werte konzentrierte. Es sind eben jene Possessions, die Begründungen, weshalb man genau hinschauen muss und man vermeintlichen kleineren Unterschieden viel Beachtung schenkt. Es sind nämlich einzelne Possessions, die in der NBA über Sieg oder Niederlage entscheiden. Nach dem Simple Rating System, welches die Einschätzung eines Teams hinsichtlich der Punktedifferenz vornimmt, müssten bspw. die Minnesota Timberwolves den sechsten Platz im Westen belegen, da sie ihre Spiele mit durchschnittlich 4,94 Punkten für sich entscheiden. Stattdessen stehen sie mit einer Bilanz von 17-18 auf Platz 10. Der Grund: In Spielen, die mit vier oder weniger Punkten entschieden wurden, haben Kevin Love und seine Mitspieler eine Bilanz von 0-10 vorzuweisen.
Die Wertschätzung einzelner Possessions ist entscheidend. Deshalb retten sich Spieler in kritischen Situationen mit dem Timeout, statt eine Possession zu verschenken. Negatives Beispiel sind dafür die Rettungsaktionen, bei denen ein Spieler ins Aus springt, um den Ball zu retten. Von den Fans oft bejubelt, wobei es aus taktischer Sicht nicht immer gutzuheißen ist, einen Ball blind ins Feld zu werfen, wenn der Gegner mehr Spieler auf dem Feld hat.
Welche Intention hat also dieser Artikel? Leider führt der Zeitgeist dazu, dass viele Leute und Fans gerne mit Zahlen um sich werfen, bestimmte Werte überinterpretieren, wesentliche Einflussfaktoren völlig vernachlässigen oder zu schnell zu starke Schlüsse basierend auf bestimmten Zahlen ziehen. Dieser Artikel soll zur Sensibilisierung dienen. Der leichte Schlag mit dem Ellenbogen in die Rippen mit Hinweis, dass trotz der steigenden Anzahl verfügbarer Mittel die Bewertung von Spielern immer noch nicht so simpel ist.
Das Warum oder die Frage ‘Ability or Opportunity?’
Understanding why is as important as understanding what or how much.
– Dr. Dean Oliver, statistischer Analyst
Wenn sich die Basketballwelt damit begnügen würde, ausschließlich Mannschaften als Ganzes zu bewerten, wäre ein Evaluierung wesentlich einfacher. Mannschaften servieren uns ihre Ergebnisse. Eine Messung ist oftmals nicht einmal nötig, von Errechnungen ganz zu schweigen. Man könnte sich der Lieblingsstatistik von Gregg Popovich bedienen, nämlich der Tabelle mit Siegen und Niederlagen. Man kann sehen, wie viele Punkte erzielt und wie viele kassiert werden, die Anzahl der Possessions kann man mitzählen, um die Offensive und Defensive Ratings der 30 Franchises zu bestimmen oder man nutzt das Simple Rating System. Es werden Werte dargestellt, die keiner tiefgreifenden Interpretation bedürfen – zumindest im Vergleich zu der individuellen Beurteilung. Doch diese ist ebenso wichtig und macht die NBA für ihre Sympathisanten auch spannender. Die Bewertung von Spielern ist notwendig. Für Coaches und Manager, um die Leistung der Mannschaft zu optimieren. Für die wöchentlichen, monatlichen oder jährlichen Auszeichnungen für die Spieler. Jeden Sommer sind Spieler vertragslos und müssen von ihren Fähigkeiten überzeugen. Zur Optimierung ihrer Bewertung verzichten einige Spieler gar auf Würfe am Ende eines Viertels, da diese nur mit einer minimalen Wahrscheinlichkeit ihr Ziel finden, aber die eigene Wurfquote verschlechtern.
Even the heave is a plus-play. But unfortunately we’re not judged on the plus-plays. We’re judged on (shooting) percentages.
– Shane Battier, Miami Heat
Die Spieler wollen ihren Anteil gewürdigt haben und einen fairen Teil vom Kuchen abbekommen, ob der Kuchen nun Teameinnahmen oder Mannschaftserfolg heißt. Aber sobald man in die Welt der Einzelspielerbewertung in einer Mannschaftssportart eintaucht, verwandelt sich der Wanderweg in eine Strecke voller großer Stolpersteine. Kann man bestimmen, welchen Anteil ein Spieler hat, wenn neun andere Spieler zeitgleich mit ihm auf dem Feld stehen? Es folgt ein kleines Beispiel. Es ist ein Extrembeispiel und kann daher nur als Verdeutlichung und nicht als Argument dienen:
Stephen Curry erzielte in der Saison 2008-09 bei Davidson in der NCAA durchschnittlich 28,6 Punkte pro Spiel. Vor dem Spiel gegen Loyola hatte er sogar einen Durchschnitt von 35 Punkten. Im Spiel gegen Loyola erzielte Curry 0 Punkte bei 0-3 aus dem Feld. Was würde man wohl aus diesen Zahlen schließen? Curry spielte möglicherweise verletzt? Hatte er den schlimmsten Off-Day seiner Basketballkarriere? Davidson gewann das Spiel mit 30 Punkten Unterschied und Curry war tatsächlich hauptverantwortlich. Hatte er viele Assists gespielt? Hatte er den Topscorer des Gegners hervorragend verteidigt? Nein, er stand hauptsächlich in der Ecke … verteidigt von zwei gegnerischen Spielern, sodass seine Mannschaftskollegen faktisch 4-gegen-3 spielen konnten. Erst nachdem man sich die ‘Warum’-Frage zu den Zahlen von Curry stellt, kommt man zu den Informationen, die man haben möchte, ansonsten wäre man auf der falschen Spur. Es war der beste Weg zum Erfolg für die Mannschaft, wenn Curry in diesem Spiel möglichst wenig tat.
Ein anderes Beispiel: Kevin Love ist bekannt als einer der besten Shooting-Bigs der NBA. Er trifft 82,0% seiner Freiwürfe und wirft 38,4% bei fast sieben Dreiern pro Partie. In der Mitteldistanz hat er allerdings nur eine schwache Quote von 36,4%. Welche Schlussfolgerung sollte man ziehen? Die naheliegendste wäre wohl, dass Love aus der Mitteldistanz Schwächen hat. Dies wäre allerdings zu voreilig, da der Wert nicht nur die Fähigkeiten widerspiegelt, sondern auch die Möglichkeiten, die der Spieler erhält. Dass Love im System der Timberwolves in anderen Spots wesentlich bessere Würfe bekommt, könnte eine ebenso schlüssige Erklärung sein. Es reicht demzufolge nicht, einfach die Werte zweier Spieler zu vergleichen, und den Spieler mit der besseren Quote als den besseren Werfer auszurufen. Es könnte nämlich sein, dass dieser bei den gleichen Fähigkeiten in seinem System wesentlich bessere Würfe bekommt.
Verflechtungen
Bevor die Advanced Statistics auch im Basketball eine prominente Rolle einnehmen konnten, konnten sie im Baseball bereits auf eine längere Historie zurückblicken. Im Baseball sind die Aktionen der Mitspieler wesentlich weniger verflochten als im Basketball. Diese Entflechtung, um die Anteile an Aktionen auf einzelne Spieler zu verteilen, macht die Sache bei der Bewertung besonders schwierig. Ein Passgeber bekommt für eine Vorlage einen Assist zugesprochen, aber ein guter Blocksteller wie Nick Collison, der einem guten Schützen offene Würfe verschafft, bekommt keine Wertschätzung dieser Art. Ebenso ein guter Rebounder am offensiven Brett, der die Verteidigung bindet, auch wenn von ihm selbst keine offensive Gefahr ausgeht – der erste Name, der bei dieser Beschreibung ins Gedächtnis kommt, ist wohl Dennis Rodman. Analog dazu das Ausboxen in der Defense. Ein Big Man, der herausragend ausboxt, während seine Mitspieler aber die Rebounds einsammeln, müsste sich möglicherweise Kritik über zu wenig Rebounds gefallen lassen, während die Mitspieler nicht nur die besagten Rebounds, sondern auch das Lob abgreifen. Nennen könnte man auch die Personal Non-Shooting Fouls, die ein Spieler beim Gegner zieht. Sie sind ein Schritt Richtung Freiwurf-Bonus und die Defense wird dadurch ebenfalls geschwächt (Foultrouble eines guten Verteidigers oder einfach eine geringere Risikobereitschaft in der Verteidigung aufgrund der Fouls). Davon kann das gesamte Team profitieren, selbst wenn der Spieler nicht mehr auf dem Feld steht.
Das soll nicht wie eine Versteifung auf Punkte klingen, die nicht direkt erfasst werden können, sondern lediglich als eine Verbildlichung für die Verflechtungen im Basketball dienen. Dieses Wechselspiel ist auch bei den Possessions und der Effizienz gegeben. Hierfür könnte man Allen Iverson als Beispiel nehmen, da dieser Spieler wie kein anderer die Lager von Analysten, Journalisten und Fans spaltet. Wenn man mal seine MVP-Saison sowie das Jahr davor und danach als Basis nimmt, geben die Effizienzzahlen (hier das Offensive Rating) folgendes wieder:
Jahr | Philadelphia 76ers | Allen Iverson |
2000 | 101,5 | 101 |
2001 | 103,6 | 106 |
2002 | 102,1 | 101 |
Nur in einem Jahr lag der Wert von Iverson über dem Teamwert. Wäre eine Schlussfolgerung, dass er der Offensive seines Teams schadet die einzig mögliche? In den drei Jahren hat Iverson 45 von 246 Spielen – knapp 20% – verpasst. Mit Iverson konnte Philadelphia ein ORtg von 103,7 erreichen. Ohne die vermeintlichen wilden Aktionen vom kleinen Guard sank dasselbe Rating auf 98,2 (die Werte stammen aus dem Buch ‘Basketball on Paper’ von Dean Oliver). Die Differenz entspricht dem Unterschied zwischen San Antonio (Platz 3 im ORtg) und Toronto (Platz 16 im ORtg). Obwohl sein ORtg durchschnittlich unter dem ORtg seiner Mannschaft lag, ist das ORtg seines Teams ohne ihn komplett eingebrochen. Die Schlussfolgerung, dass seine Offense dem Team schadet, hätte man zunächst mit den Zahlen belegen können, aber das Ganze hätte sich bei genauerer Betrachtung als verfrühte Schlussfolgerung herausgestellt.
Welche Faktoren vernachlässigt man bei einer Betrachtungsweise, wie der obigen, bei der man auf einen negativen Einfluss schließt? Ohne großartige Überzeugungskraft lässt sich wohl vermitteln, dass eine steigende Anzahl an Possessions die Effizienz eines Spielers in Mitleidenschaft ziehen kann. Ein Erklärungsansatz für die Situation der 76ers und Iverson könnte sein, dass seine hohe Beanspruchung der Possessions seinen weniger talentierten Mitspielern wiederum erlaubt hat, ihre Possessions besser zu nutzen. In den Spielen, in denen er fehlte, mussten andere Spieler seine Possessions übernehmen, aber sie konnten es nicht mehr mit ihrer vorherigen Effizienz tun, sodass die Offensive insgesamt wesentlich schlechter war. Es ist hier kein Appell für das Ballhogging von Starspielern, aber es zeigt, dass eine differenzierte Betrachungsweise notwendig ist und nicht bloß die erste Intuition. Natürlich wäre es für die Sixers besser gewesen, wenn auch Iverson effizienter gewesen wäre, aber man muss auch schauen, wie die Effizienz der anderen Spieler bei einer steigenden Anzahl an Possessions reagieren würde. Ein Wechselspiel.
The Core – Der innere Kern
Will man Zahlen nutzen, sollte man sich zumindest bis zu einem gewissen Grad mit dem Aufbau der Zahlen selbst beschäftigen. Bei den teilweise sehr mathematischen Formeln ist es natürlich einfach gesagt, aber die Einflussfaktoren und die Reaktionen von wesentlichen Aspekten sollten zumindest bekannt sein. Um die Interpretationsmöglichkeiten zu verbessern. Zum Player Efficiency Rating von John Hollinger gab es hierzu bereits einen Artikel bei Go-to-Guys von Dennis Spillmann zu lesen. Wenn man das ORtg nutzt, sollte man bspw. wissen, dass dort auch offensive Rebounds einfließen.
So, you’re a big believer in offensive rebounds I think; I’m not. Listen, like I said, you can pick on that all I want. That is a number I rarely look at, offensive rebounds. Statistically, it holds up. I can tell you, you don’t offensive rebound, you stop transition, you win more games than when you get offensive rebounds. I can guarantee you that on those stats.
– Doc Rivers, damals noch Coach der Boston Celtics
2010 standen die Boston Celtics in den NBA-Finals und waren fünf Punkte vom Titel entfernt. In Sachen offensiver Rebounds waren die auf dem letzten Platz, holten 20% weniger als das durchschnittliche Team und sogar ein Drittel weniger als das beste Team aus Memphis. Dies geschah augenscheinlich auch auf Anweisung vom Trainer. Unabhängig davon, ob es sinnvoll ist oder nicht (eine Frage, mit der sich Zach Lowe von Grantland auseinandergesetzt hat), müssen sich die Spieler natürlich der Anweisung des Coaches fügen. Und damit möglicherweise ein schwächeres ORtg hinnehmen – systembedingt. Bei der Frage, welcher Spieler bei einem System besser funktionieren könnte, können solche Aspekte eine Rolle spielen – bspw. wenn man 2010 Spieler aus Memphis und Boston anhand des ORtg miteinander verglichen hätte, hätte man beachten sollen, dass Rivers Marschroute dem ORtg der Celtics-Spieler geschadet hat, während die Grizzlies-Spieler ihre eigene Effizienz allein durch den stärkeren Fokus auf Offensive Rebounds steigern konnten. Bei einer fehlenden hinreichenden Zahlenbetrachtung und einer fehlenden konkreten Kenntnis des Aufbaus würde dies ansonsten hinten runterfallen, weil man mglw. nicht wüsste, dass Offensive Rebounds das ORtg verbessern.
Fun Fact: Wie viele Leute wissen wohl, dass vorgelegte Field Goals gute Schützen im Vergleich zu schwächeren Schützen im ORtg benachteiligen?
Zahlen lügen nicht
…zumindest die Zahlen, die etwas messen und nicht berechnen. Aber man muss auch ihre Sprache sprechen, um sie zu verstehen. Wir unterstellen einfach mal, dass die Datenerfassung nicht manipuliert ist (The Nick van Exel Assists Controversy), auch wenn teilweise – bspw. bei den Assists – dort Subjektivität einfließen kann.
Dieser Artikel soll keinesfalls als Agenda gegen die Anwendung von Zahlen erscheinen. Dieser Punkt soll hier nochmal doppelt unterstrichen werden! Der Wert der quantitativen Methoden ist und bleibt außerordentlich groß. Es geht hier mehr um den Umfang. Die verfügbaren Zahlen nehmen uns nicht das Denken ab und ein einfacher Blick auf einzelne Zahlen gibt uns kaum automatisch die vollständige Antwort, die uns ermächtigt, die vermeintliche Wahrheit zu proklamieren. Zahlen geben uns Informationen zu bestimmten Punkten. Man sollte sie nicht zu Überinterpretationen missbrauchen, um voreilig Schlüsse zu ziehen, die die genutzte Zahl eigentlich gar nicht zulässt.
Falls in Zukunft die Plus/Minus-Statistiken soweit optimiert sowie um ihre Mängel berichtigt sind und daher eine enorm hohe Exaktheit aufweisen, kann man nochmal über schnelle Rückschlüsse reden. Ob es realistisch ist, wird die Zeit zeigen. Bis dahin immer nach dem Warum fragen, mehrere Erklärungen suchen und abwägen.