Zur Aussagekraft von Shot Charts
Am Dienstag veröffentlichte Kirk Goldsberry einen seiner mittlerweile legendären Shot Chart-Artikel, in dem er diskutiert, wer der beste Shooter der NBA ist. Er selbst kommt zu dem Schluss, dass sowohl Stephen Curry als auch Kevin Durant und Dirk Nowitzki die besten Schützen der NBA sind. Auf unserer Facebook-Seite teilten wir die Shot Chart von Nowitzki und erhielten eine riesige positive Resonanz. Es wurde getweetet, dass Dirk in der letzten Saison sehr gut in „basketballing“ war. Damit ist Dirk der beste Shooter der Liga. Oder?
Das Fundament: Shooting ist nur ein Teil des Spiels
Zunächst sollte man sich darüber im Klaren sein, dass wir hier nur vom Shooting reden, genauer: vom Feldwurf. Diese Charts können nicht die Offense eines Spielers abbilden – und das sollen sie auch gar nicht. Es wäre fatal, wenn man die Shootingleistung eines Spielers mit seiner kompletten Offensive gleichsetzt. Man kann Indizien aus Shot Charts ziehen, wenn man versucht, die Offense eines Spielers zu bewerten. Die Aussage von Gutierrez über „basketballing“ sollte also nicht wörtlich genommen werden. Der Wurf ist nur ein Teil des Spiels, erst der Einbezug anderer Teile ergibt ein vollständiges Bild. Demnach sollte man sich immer vor Augen führen, dass Shot Charts nur die Feldwürfe abbilden und man mit einer Shot Chart nur begrenzt für die Qualität eines Spielers argumentieren kann.
Dennoch bleibt diese eindrucksvolle Shot Chart Nowitzkis natürlich stehen. Ist er einer der besten Shooter der NBA? Die kurze Antwort ist: ja, ist er. Eine längere Antwort würde lauten, dass er einer der besten Shooter ist, aber man dies nicht unbedingt an den Shot Charts ablesen kann. Es ist hier eher so, dass die Shot Chart zufällig auch anzeigt, dass Nowitzki überragend ist. Ein legitimes Argument kann die Chart aber nicht liefern. Deshalb ist Nowitzki auch ein schlechtes Beispiel für die weitere Argumentationsführung, trotzdem soll er zur Verdeutlichung der Schwächen einer Shot Chart weiterhin Bestandteil des Artikels sein. Goldsberry nannte neben Nowitzki noch Stephen Curry als einen der besten Shooter der letzten Saison. Dies trifft vor allem auf den Drei-Punktewurf zu, wie auch Currys Shot Chart zeigt (Im Folgenden werden übrigens die Shot Charts von Nylon Calculus genutzt, da diese für alle Spieler vollständig vorliegen und zudem weitere Features anbieten, die Probleme der Shot Charts von Goldsberry aufzeigen werden.):
Curry hat fast überall orange bis rote Shotcluster. Die Fähigkeit, vor allem aus dem Dribbling abschließen zu können, machen Curry zu einem legitimen Kandidaten für den besten Shooter. Trotzdem schnitten sowohl Nowitzki als auch Curry beim True Shooting in der letzten Saison nicht so gut ab wie dieser Herr:
Spätestens jetzt ist das Stirnrunzeln erlaubt. James Harden hat keinen einzigen tiefroten großen Cluster. Keinen. Einzigen. Currys komplette Dreierversuche sind mindestens orange. Trotzdem führt James Harden bei der True Shooting Percentage vor Curry und Nowitzki. Wie kann dies sein?
Der blinde Fleck 1: Freiwürfe
Der Hauptmangel an bisher allen Shot Charts ist das Fehlen der Freiwürfe. Diese zählen – wie alle Feldwürfe aus dem Spiel auch – zum Shooting eines Spielers. Nun haben wir mit Harden einen der ligaweit besten Spieler, was das Herausarbeiten von Freiwürfen angeht. Kombiniert mit der Treffsicherheit von 86,6% von der Linie, blenden bisher alle Shot Charts eine der größten Qualitäten James Hardens aus. Natürlich sieht die Shot Chart nicht so sexy aus wie die von Dirk Nowitzki, aber tatsächlich wirft Nowitzki aus dem Trio am ineffizientesten. Harden kommt durch die Kombination von Feld- und Freiwürfen auf ein True Shooting von 61,9%, Curry landet bei 61, Nowitzki bei 60,3. Zur Einordnung: Das ist ligaweit Top 20 und alle Werte sind großartig.
Hardens Qualität an der Linie kann man noch weiter exponieren, wenn wir uns nur die schiere Anzahl von Freiwürfen ansehen, die Harden sich in der letzten Saison erarbeitet hat. Curry kommt auf 348 Freiwürfe, Nowitzki landet bei 376. Harden kann fast den doppelten Wert aufweisen: 665 Mal ging der Guard der Rockets an die Linie! Dass er dabei sogar die schlechteste Freiwurfquote der drei vorweist (Curry: 88,5%, Nowitzki: 89,9%), macht das Verstehen der TS% vielleicht noch unverständlicher. Hierbei ist dann vor allem das Verhältnis von Feldwurf zu Freiwurf zu beachten: Currys jeder fünfte Wurf ist ein Freiwurf, bei Nowitzki sind 22% aller Würfe von der Linie, bei Harden sind es: 35%!
Wir müssen hier schon attestieren, dass die Shot Chart mit dem Fehlen der Freiwürfe einen eklatanten Teil des Shootings ausblendet. Dies führt dazu, dass 35% aller Würfe von James Harden gar nicht erfasst wurden.
Trotzdem bleibt die Frage offen, wie Harden an Nowitzki vorbeiziehen kann, wenn dieser wirklich von fast überall rote Cluster vorweisen kann und ein besserer Freiwurfschütze ist. Die Differenz zwischen Nowitzki und Harden dürfte doch groß genug sein, um Harden distanzieren zu können.
Der blinde Fleck 2: Shooting-Effizienz
Auf Go-to-Guys wurde ja bereits auf verschieden Weisen darauf hingewiesen, dass ein Feldwurf nicht immer denselben Wert hat. Dies hatten wir zunächst beim „Ende der Feldwurfquote“ dargestellt, später wurde dies auch nochmals beim “Siegeszug der Drei-Punkte-Linie“ bestätigt. Durch die Dreierlinie ist ein Wurf von dort mehr wert als innerhalb des Perimeters. Dies hat Goldsberry bisher nie berücksichtigt und sorgt dementsprechend für eine verzerrte Wahrnehmung. Dies ist auch ein Grund, um auf die Shot Charts von Austin Clemens auf Nylon Calculus auszuweichen. Clemens hat seine Shot Charts in zwei verschiedenen Varianten angeboten: zum einen die klassische Shot Chart, die Goldsberry auch nutzt, nur mit leicht anderem Clustersystem. Spannender ist aber die zweite Variante: Clemens hat die Shot Charts in Bezug auf Effizienz farblich gekennzeichnet. Pro Wurf erzielte ein NBA-Spieler 2013/14 1,06 Punkte. Nun werden die Wurfwerte der Spieler mit diesem Ligaschnitt abgeglichen. Heraus kommt eine farbig etwas veränderte Shot Chart von Nowitzki:
Auffällig sind die blauen Midrange-Shots, die auf einmal auftauchen. Bei Goldsberry war noch alles rot. Dies liegt an der veränderten Sicht auf die Dinge. Während Goldsberry sich die einzelnen Spots anschaut und einen NBA-Durchschnitt für den Spot ermittelt, setzt Clemens hier beim ligaweiten Schnitt für einen Wurf (egal aus welcher Position) an. Es wäre also – in einem Vakuum betrachtet – ratsam für einen Shooter, mehr Würfe von den Spots zu nehmen, wo er über Ligaeffizienz scort, um dem Team zu helfen. Dies ist natürlich nicht immer möglich. Wie schneidet Harden nun bei der Wurfeffizienz ab?
Man kann erahnen, warum Harden ein leicht effizienterer Shooter als Curry und Nowitzki sein könnte: Harden hat zwar einige blaue Flecken auf seiner Chart, aber diese sind ziemlich klein gehalten. Trotzdem kann eigentlich intuitiv nicht erklärt werden, wieso Harden nun so gut im True Shooting abschließt. Dies hat mit einer weiteren Eigenheit zu tun, die die Shot Charts nicht adäquat abbilden können.
Der blinde Fleck 3: Verzerrung des Volumens
Die Shot Charts versuchen das Volumen des Spielers durch verschieden große Cluster auszudrücken: Goldsberry löst es über größere oder kleinere Sechsecke, bei Clemens sind es abgerundete Vierecke, die die Häufigkeit abbilden sollen. Dies wird dadurch erreicht, dass beide Analytiker alle Shot Charts eines Jahres übereinander legen und dann die Spots lokalisieren, von denen ein Spieler am häufigsten abgeschlossen hat. Je öfter ein Spieler vom gleichen Spot warf, desto größer wird der Cluster. Allerdings entsteht gerade bei einem Spot ein Problem, weil dort so viele Abschlüsse getätigt werden, dass schnell die größte Clustergröße erreicht ist: direkt unter dem Korb wird sehr oft abgeschlossen. Wenn wir jetzt bspw. Harden und Curry am Ring vergleichen, gibt es verhältnismäßig wenig Erkenntnisse:
Selbst mit dem Auszählen der einzelnen Cluster kämen wir nur darauf, dass Harden wohl leicht mehr Abschlüsse am Ring genommen hat. Tatsächlich reden wir hier aber von einem Unterschied von 143 Würfen. Curry hat 225 mal direkt am Ring abgeschlossen, Harden kommt auf 368. Diese Cluster am Ring können dies einfach nicht adäquat abbilden, sodass wir daraus geeignete Schlüsse ziehen könnten. Tatsächlich hat Curry eben nur 60% des Volumens am Ring genommen, wenn man ihn mit Harden vergleicht. Dies ist hier leider nicht ersichtlich.
Dies hat vor allem bei Nowitzki den Nachteil, dass man seine Ringabschlüsse gar nicht mithilfe der Chart von Goldsberry quantifizieren kann. Wir sehen nur, dass er ein überdurchschnittlicher Finisher am Ring ist. Vergleichen wir hier jedoch das Volumen am Korb und ziehen die Effizienz hinzu, ergeben sich kleinste Lücken im Spiel des Deutschen:
Wir haben bei den Charts von Clemens die Möglichkeit, eigene Shot Areas zu bilden und erhalten dazu gleich zwei Informationen: wie gut der Spieler aus einem Umkreis von 5 Fuß getroffen und mit welchem Volumen hat er aus dieser Distanz abgeschlossen hat. Bei Nowitzki kann man hier gleich drei Dinge feststellen. Zum einen hat er unglaublich gut am Ring abgeschlossen. 74% sind wirklich stark. Zum anderen ist sein Wurf vom rechten Elbow mit 47% zwar besser als der NBA-Durchschnitt, aber wie auf der Chart zu erkennen, ist er unterdurchschnittlich, wenn wir davon ausgehen, dass ein Spieler pro Wurf mehr als einen Punkt erzielt. Dazu hätte Nowitzki aus dieser Position mit mindestens 50,3% abschließen müssen. Die dritte Erkenntnis ist die Wegweisendste: Nowitzki hat 50% mehr Würfe vom ineffizienten Elbow genommen als direkt am Ring. Dies erklärt auch, warum Harden trotzdem effizienter sein kann als die rote Shot Chart Nowitzkis bei Goldsberry vermuten lässt. Hardens größte Qualität wird leider in den Shot Charts verdeckt und muss erst sichtbar gemacht werden:
Harden nimmt jeden dritten Feldwurf direkt am Ring! Bei Nowitzki ist es jeder elfte, Curry kommt auf 18%. Um den Umstand nochmals zu verdeutlichen: James Harden hat in der abgelaufenen Saison mehr Würfe direkt in Ringnähe genommen und getroffen als Curry und Nowitzki zusammen. Dies ist aus den Shot Charts von Goldsberry zu keinem Zeitpunkt zu entnehmen. Somit ergibt sich endlich auch ein zurechtgerücktes Bild, das uns verstehen lässt, wieso Harden effizienter warf als Curry und Nowitzki.
Die Aussagekraft einer Shot Chart
Die Frage, ob Nowitzki der beste Shooter der Liga ist, ist schwer zu beantworten. Beeindruckend ist, dass er wirklich von überall auf dem Feld über NBA-Durchschnitt treffen kann. Dies wäre ein legitimes Pro-Argument. Fraglich bleibt aber, wie sinnvoll diese Fähigkeit ist, wenn man die Möglichkeit hätte, von effizienteren Spots werfen zu können. Nun können wir in diesem Einzelfall Nowitzki kaum einen Vorwurf machen: Seine Mavericks haben – vor allem durch ihn und sein Spacing – eine sehr effiziente Offensive gespielt. Von daher kann man sicherlich – wie auch Goldsberry feststellte – Nowitzki zu den besten Schützen in der NBA zählen.
Problematisch werden Shot Charts zur Erkenntnis der besten Shooter aber, wenn sie unvollständig oder nicht normiert sind. Goldsberrys Shot Charts sind nicht mehr als ein nettes Gimmick. Sie verraten zu wenig über das Volumen oder ermöglichen keinen Quervergleich zwischen den Spielern. Aus mehreren Gründen sind die Charts von Clemens vorzuziehen: Zum einen haben wir wirklich Zugriff auf alle Charts aller NBA-Spieler. Des Weiteren können wir zwischen der Gewichtung nach NBA-Durchschnitt und Effizienz wählen und so schon besser einschätzen, welcher Wurf wirklich ineffizient war. Zum anderen haben wir mit der individuellen Option, 5-Fuß große Cluster selbst zu erzeugen, die Möglichkeit, das tatsächliche Volumen aus dieser Distanz zu bestimmen, um einen besseren Überblick zu erhalten.
Bei allen Shot Charts fehlt aber bisher die Gewichtung der Freiwürfe als Scoringmöglichkeit. Dies verfälscht die Wahrnehmung weiterhin zu sehr und kann nur zu einer fehlerhaften – weil unvollständigen – Betrachtung führen.
Einem Spieler wie James Harden schaden diese Shot Charts in der Wahrnehmung verhältnismäßig viel. Seine beiden größten Stärken werden verzerrt oder gar nicht dargestellt: Harden ist ein exzellenter Freiwerfer und attackiert rigoros den Korb. Ob Harden – ohne Midrange-Game – wirklich als einer der besten Shooter dargestellt werden kann, hängt von der Definition eines „Shooters“ ab. Aber er ist mit Sicherheit einer der fünf effizientesten Werfer der NBA. Es ist auch eine bedeutende Qualität, wenn man erkennt, wo die Spots sind, in denen man am wahrscheinlichsten Erfolg hat – und auch tatsächlich dahin gelangt. Vielleicht sogar wertvoller, als von jedem Fleck auf dem Court treffen zu können.