Ein Dialog über die neue Starting Five
Die Preseason der Sixers ist schon seit dem 8. Oktober vorbei und der Saisonstart im NBA-Opener gegen die Celtics steht unmittelbar bevor. Damit die Hörer und Leser von Go-to-Guys.de nicht immer nur einen 76ers-Experten und -Fan rezipieren können, hat sich Redakteur Philipp Rück dieses Mal mit Max Harslem Hilfe von außerhalb eingeladen. Max selbst ist großer Sixers-Fan, der ähnlich wie Phil die “Process”-Zeit durchlebte. In dieser Diskussion kurz vor dem Saisonstart tauschen sich die beiden über Lineups, Erwartungen und natürlich Markelle Fultz aus.
Philipp Rück: In allen vier Spielen der Preseason bekam Markelle Fultz den Vorzug vor JJ Redick in der Starting Five. Im letzten Spiel war dann aber Redick derjenige, der mit den restlichen Starten die zweite Halbzeit begann. Was hältst du von dieser ersten Fünf und dem Wechsel in der zweiten Halbzeit? Kann es funktionieren? Wo siehst du Probleme? Was wäre dein alternativer Ansatz?
Max Harslem (@M_H4S1): Es ist eine sehr gewagte Entscheidung von Coach Brown, die Lineups so durchzumischen. Mit Simmons, Redick, Covington, Saric und Embiid hatte man in der letzten Saison die beste Starting Five der Liga (+20,4 NetRtg. Was bewog Brown also dazu, die Starting Five so aufzubrechen, und warum ist Redick derjenige, der für Fultz weichen muss.
Bei letzterer Frage fiel die Wahl wohl zwischen Saric und Redick, da Covington wegen seiner elitären Verteidigung und seinem soliden Dreier ein zu wertvolles, einzigartiges Skillset mitbringt, welches die beiden Stars Simmons und Embiid ideal komplementiert. Dass Brown sich dafür entschied, Saric statt Redick in der Starting 5 zu lassen, ist überraschend. Redick ist sehr wahrscheinlich der deutlich bessere Fit neben den Startern, da er der einzige Schütze ist, von dem man weiß, dass man sich auf ihn verlassen kann. Covington war schon immer ein streaky Shooter, während Saric erst noch beweisen muss, dass er wirklich so ein guter Shooter ist, wie es die Quote letztes Jahr aussagt (39 % bei 5 Versuchen gegenüber 31 % bei 4 Versuchen als Rookie).
Außerdem verlieh Redick mit seinem Shooting sowohl aus Screens als auch aus Hand-Offs hinaus und seinem allgemein aktiven Offensivspiel den Sixers eine Dimension, welche sonst kein anderer der (potentiellen) Starter liefern kann. Würfe wie diese kann man weder von Saric noch von Covington erwarten:
An diesen Videos sieht man deutlich, wie sehr Redick seinen Verteidiger bindet, da er nach jedem Screen beziehungsweise Hand-Off in der Lage ist, den Verteidiger sofort zu bestrafen, sobald er sich auch nur ein bisschen Platz verschafft hat.
Für Redick auf der Bank spricht allerdings, dass Saric als Starter immer besser gespielt hatte. So legte er während seiner Karriere in bisher 109 Spielen als Starter 15,2 Punkte bei einer TS% von 55,9% und einem Ortg von 106 auf, während er als Bankspieler in 50 Spielen bei einer TS% von nur 50% und einem Ortg von 96 nur auf 10,5 Punkte blieb. Nicht zu vernachlässigen ist dabei auch, dass die 4 – Mann – Kombination aus Simmons – Redick – Covington – Embiid zwar ein NetRtg von 17,8 aufweist, dieselbe Kombination mit Saric anstelle von Redick aber sogar ein NetRtg von 18,7 erreicht hatte. Saric scheint also mit seiner Größe, seinem Rebounding, seinem leicht besser ausgeprägten Playmaking sowie seinem letzte Saison ebenfalls gutem Shooting (39,3 3FG% bei 5,1 3FGA) sogar einen noch etwas größeren Impact gehabt zu haben, weswegen Browns Entscheidung, Redick statt Saric auf die Bank zu setzen, vertretbar ist.
Die allerdings viel wichtigere Frage ist, warum der Coaching-Staff dieses gut funktionierende Lineup überhaupt aufbricht und die Minutenanzahl, die diese fünf zusammen spielen, damit zwangsläufig reduziert. Dies ist sportlich schwer zu rechtfertigen, auch wenn in den Playoffs deutlich wurde, wie wichtig es ist, einen sekundären Ballhandler neben Simmons zu haben. Dies sollte Fultz zwar im Vakuum liefern können, ob er aber auch gut zu den anderen Startern passt, ist eine andere Frage. Die Sixers können von Fultz Stand heute nicht erwarten, dass er in den Spielen viele Würfe aus dem Dreipunktebereich nehmen und treffen wird. So hatte er in der Preseason diesbezüglich kaum Ansätze gezeigt, und kam während der gesamten Vorbereitung nur auf fünf Dreierversuche, von denen vier im selben Spiel kamen. Situationen wie diese, in denen Fultz einen weit offenen Dreier ignoriert, um lieber in die Mitteldistanz zu dribbeln, gab es leider letzte Saison viel zu häufig:
In der nachfolgenden Situation veweigert Fultz ernuet den Dreier und zieht stattdessen gegen drei Verteidiger (Matthews, Powell und Finney Smith) Richtung Korb, wobei er nur gerade so einen Turnover vermeiden kann.
Hier ist Skepsis angebracht, ob der Wurf in nächster Zeit verlässlich da ist, und ohne den Wurf ist der Fit mit den anderen Startern nicht wirklich gegeben. In der heutigen NBA wird eine Aufstellung mit einem unterdurchschnittlichen Dreierschützen und zwei kompletten Non-Shootern, die auch noch als primärer sowie sekundärer Ballhandler agieren sollen, offensiv wahrscheinlich nicht gut funktionieren. Verteidigungen werden zumindest von Simmons und Fultz weit absinken, sobald einer von Ihnen an der Dreierlinie steht. Simmons kennt dieses Problem zwar schon aus der letzten Saison und konnte dies oft auch gut lösen, allerdings wird es schwierig für ihn, seine Effizienz in der neuen Starting Five zu halten, da Fultz‘ Verteidiger wahrscheinlich oft zur Hilfe gegen Simmons kommen wird. Dieser Effekt könnte sogar nochmal extremer ausfallen, wenn Sarics und Embiids Shooting Slumps aus der Preseason sich auch in der regulären Saison fortsetzen.
Eine weitere Nebenwirkung ist, dass Fultz Embiids Post-Ups deutlich erschweren wird. Die letzte Saison und die Preseason zeigen, dass Doppeln das beste Mittel gegen Embiid ist. Dies ist umso leichter, wenn der Gegner von Fultz weghelfen kann und nicht an Redick kleben muss. Markelles Anwesenheit beeinträchtigt die Offensive der beiden besten und wichtigsten Spieler des Teams eher negativ und es ist ebenfalls zweifelhaft, ob er das am defensiven Ende rechtfertigen kann. Fultz ist zwar in der Defense athletischer und länger als Redick, da letzterer aber diese athletischen Defizite mit seinem IQ und seinem guten Stellungsspiel so gut wie möglich ausgleicht, ist es noch gar nicht gegeben, ob Fultz überhaupt ein besserer Verteidiger als Redick ist. Es lässt sich also klar und deutlich sagen, dass diese erste Fünf nicht die beste fünf der Sixers sein wird. Markelle wird in der nächsten Saison noch keinen sportlichen Mehrwert gegenüber Redick bringen können. Die Entscheidung, Redick die zweite Hälfte von Spielen starten zu lassen, lässt erkennen, dass der Coaching-Staff der neuen Starting Five auch nicht vollends vertraut. Um Spiele zu closen, wird man wahrscheinlich eher auf letztjährige als auf die neuen Starter zurückgreifen.
Es bleibt also die Frage offen, was Brett Brown dazu bewogen hat, die Starting Five zu ändern. Zach Lowe hat in seinem Podcast mit Kevin Arnowitz die Vermutung in den Raum gestellt, dass man mit dieser Entscheidung langfristig denkt und sich auf eine mögliche Serie gegen Boston vorbereiten will, und man deswegen sogenannte „Growing Pains“ während der Saison in Kauf nimmt, um danach als Team ein höheres Ceiling zu haben. Diesem möglichen Ansatz stehe ich aber ebenfalls kritisch gegenüber. Dieser Gedankengang setzt voraus, dass Fultz über die Saison hinweg seinen Wurf soweit verbessert und sich so viel Selbstvertrauen holt, dass er relativ bald bei solidem Volumen seinen Dreier einigermaßen trifft, da die im Absatz zuvor beschriebenen Probleme sportlicher Natur sonst alle bestehen bleiben würden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ich dem Schritt extrem kritisch gegenüberstehe. Meiner Meinung nach wäre es am besten, Markelle gerade zu Beginn von der Bank zu bringen, bis er bewiesen hat, dass er zumindest einen respektablen Wurf besitzt. Außerdem wäre es gut, ihn in möglich wenige Aufstellungen spielen zu lassen, in denen Embiid, er und Simmons gleichzeitig auf dem Feld stehen. Es gibt einige mögliche Lineups mit Fultz, die ich sehr gerne sehen würde, ihn in irgendeiner Version der Starting Five gehört nicht dazu. Wie stehst du zu dem Wechsel? Denkst du, diese Aufstellung kann trotz der Shooting-Problematik einen Weg finden, zusammen zu spielen? Und gibt es deiner Meinung nach noch einen anderen Grund, warum die Sixers Fultz starten lassen?
Phil: Es gibt durchaus sogar einige Gründe, warum Browns Entscheidung pro Fultz nachvollziehbar ist. Einen Punkt hast du schon angesprochen: Simmons, Embiid und Fultz sind die Eckpfeiler dieses Teams. Ihre Entwicklung steht im Vordergrund und wird langfristig entscheiden, ob man ein Contender sein wird oder nicht. Entwicklung heißt aber hier nicht nur die individuelle Entwicklung der Spieler hin zu ihren besten Versionen, sondern auch die Entwicklung zusammen auf dem Feld. Du hast vermutlich recht, dass im Jahr 2018/19 die beste Fünf der Sixers Fultz nicht enthalten wird. Aber Fultz jetzt neben Embiid und Simmons möglichst viel Spielzeit zu geben, fördert das Zusammenspiel, die Chemie und den Spielstil zwischen den dreien, was ab 2020 große Rendite abwerfen könnte. Außerdem verlor man durch diverse Verletzungen schon genügend Evaluationszeit, um herauszufinden, ob diese drei auf dem Feld offensiv und defensiv gemeinsam funktionieren. Man kann es sich eigentlich nicht leisten, weitere Evaluation zu vergeuden. Sollte sich herausstellen, dass sie eben nicht funktionieren, weiß man dies zwecks Trades lieber früher als später. Abseits dieses skeptischen, zuletzt genannten Aspektes gilt es für Brown, seine drei Eckpfeiler gemeinsam auf dem Feld zu entwickeln. Die Idee, Redick zu Beginn der zweiten Halbzeit mit den Reststartern aufs Feld zu schicken, kann, wie du anmerkst, mangelndes Vertrauen sein. Es kann aber auch der versuchte Mittelweg aus Evaluierung/Entwicklung und diesjährigem sportlichen Erfolg sein.
Mit deiner kurzfristigen sportlichen Skepsis hast du natürlich auch recht. Offensiv wird dieses Experiment deutlich schlechter sein als die letztjährigen Starter. Fultz´ Preseason war nicht nur auf den Wurf bezogen relativ ernüchternd und schwach. Er ist in allen Bereichen zögerlich, kommt nicht zum Korb und wirkt körperlich (noch) überfordert; ein kleiner Rückschritt im Vergleich zum Ende der Saison 17/18. Dennoch könnte dieses Lineup mit seiner Länge, seiner Athletik und der Möglichkeit, alles zu switchen, defensiv so dominieren, dass der wahrscheinliche offensive Rückschritt zu verschmerzen und sogar wettzumachen ist. Redick ist kein schlechter Defender, aber Fultz ist im Idealfall ein deutlicher Plusspieler an diesem Ende des Feldes.
Außerdem nimmt Brown die offensiven Einbußen in Kauf, weil er womöglich weiß, dass sie trotz aller von dir richtig beschriebenen Mängel gar nicht groß sind. Der Grund dafür ist, dass Embiid einfach so unfassbar gut ist, dass mit ihm auf dem Feld alle Lineups auch offensiv funktionieren; völlig egal, ob es Spacing- und Shooting-Probleme gibt, oder nicht. Die Offensive der Sixers war letztes Jahr mit Embiid auf dem Feld bei 114 Punkten pro 100 Possessions (laut basketball-reference). Das Problem ergab sich letztes Jahr immer dann, wenn man ohne ihn agieren musste. Dann ist der Angriff nicht einmal NBA-Durchschnitt. Zumindest theoretisch schwingt also hier die Idee mit, Redick ohne Embiid auf dem Feld gegen Backups des Gegners spielen zu lassen. Wenn Starter schon Probleme haben, die off-screen-Action und Dribble Hand-Offs zu verteidigen, wie schwer wird es erst den Bankspielern fallen? Redick von der Bank könnte endlich den erhofften offensiven Boost von der Bank bringen.
Aber es gibt weitere Gründe, die für die neue Starting Five sprechen. Wie Fultz´ Privattrainer Drew Hanlan im Sommer bestätigte, litt Fultz im letzten Jahr unter der „Yips“. Das ist hier ist kein Medizinportal, aber Yips ist zumindest zum Teil ein mental verursachtes Phänomen. D.h., dass der psychische Druck, den Fultz spürte, dazu führte, dass er keinen Basketball mehr werfen konnte. Hanlan bestätigte, dass sein Schüler im Prinzip die Mechanismen eines Basketballwurfs vergessen hatte. Fultz scheint mental also relativ anfällig zu sein. Dass er in Interviews die mentale Problematik auch immer wieder dementiert, verstärkt diesen Eindruck.
Auf der anderen Seite wirkt es so, dass die Bezeichnung als NBA-Starter für viele Spieler wichtig ist. Nicht zuletzt Carmelo Anthony reagierte arrogant-sarkastisch auf die Frage im letzten Jahr, ob er sich vorstellen könnte, bei den Thunder von der Bank zu kommen. Aber er ist nicht der einzige Spieler, der sein Selbstvertrauen aus dem „Etikett“ NBA-Starter zieht. Demnach ist es möglich, dass Brown diesem Problem zuvorkommt und Fultz alleine deshalb zum Starter ernennt, um dessen Selbstvertrauen massiv zu erhöhen. Es drückt in gewisser Weise Wertschätzung aus, wenn man statt eines der besten Shooters aller Zeiten bei einem NBA-Contender startet.
Nachdem jetzt geklärt wurde, warum es sinnvoll sein kann, Fultz starten zu lassen, soll eruiert werden, warum sich gegen Redick und für Saric in der Starting Five entschieden wurde. Einige Aspekte wurden schon genannt (Saric mit Problemen als Bankspieler; Redicks voraussichtliche Stärke gegen Backups). Einen weiteren findet man, wenn man sich die Einzigartigkeit des Sixers-Lineups verinnerlicht, die durch Ben Simmons evident wird. Simmons als de facto Point Guard in der Offensive ermöglicht es den Sixers, relativ groß zu spielen. Umgekehrt sind er und Covington so gute Verteidiger, dass beide problemlos einen Guard über weite Strecken verteidigen können. Mit Fultz und Saric als Startern hat man selbst nur einen Guard im Lineup. Das führt umgekehrt dazu, dass der Gegner selbst mit einem Guard einen größeren Gegenspieler verteidigen muss. Teams wissen – gerade in der RS – immer noch nicht wirklich, wie sie Simmons verteidigen sollen. Schicken sie einen größeren Spieler (also einen Wing/Forward), spielt Simmons viel am Perimeter und nutzt seine Schnelligkeit und Beweglichkeit aus. Wird er von einem Guard verteidigt, so soll Simmons in der Theorie dieses Jahr diese Mismatches viel öfter ausnutzen und seine körperlichen Vorteile im Post ausspielen. In einer NBA, die immer mehr switcht, um so vor den Gegenspielern zu bleiben und keine offenen Würfe aufzugeben, wird „Mismatch-Hunting“ immer wichtiger (Gruß an die Rockets und Celtics). Die Preseason ließ bereits erkennen, wie sehr der Fokus auf Simmons im Post gegen kleinere Gegenspieler gerichtet wird.
Direkt in der ersten Possession im Spiel gegen die Mavericks gibt Simmons den Ball ab und drückt seinen wesentlich kleineren und leichteren Gegenspieler Dorian Finney-Smith mit dem Rücken sehr nahe Richtung Korb. Er erhält den Pass und kann dank der guten Post-Position den leichten Korb machen, indem er sein Mismatch ausnutzt.
Noch extremer ist das Mismatch, wenn sogar Point Guards wie Jalen Brunson auf Simmons angesetzt sind. Natürlich ist Brunson als besonders kleiner Spieler und gleichzeitiger Rookie kein repräsentativer NBA-Gegenspieler, aber nur wenige Guards in der NBA können es in der Defensive mit Simmons´ Mix aus Stärke, Beweglichkeit und Athletik im Post aufnehmen. Dies ist umso einfacher umzusetzen, wenn die Sixers groß spielen. Ein Guard des Gegners muss dann zumindest teilweise Simmons oder Saric verteidigen, die diese dann aufposten können. Das Lineup aus Fultz, Saric, Covington, Simmons, Embiid ist defensiv nicht nur gut genug, sondern wahrscheinlich – wie weiter oben bereist aufgeführt – womöglich eines der besten Defensiv-Lineups der Liga. Offensiv ermöglicht es aber das ständige Suchen dieser Mismatches. Langfristig ist die Verbesserung von Simmons in Post-Up-Situationen ungemein wichtig, gerade in Anbetracht aller Zweifel um seinen Wurf. Deshalb fördert dieses Lineup diese nötige Entwicklung.
Würde man mit Redick statt Saric starten, ist die Aufstellung sehr viel traditioneller. Die Gegner können mit ihren beiden Guards einfach die beiden Sixers-Guards Fultz und Redick verteidigen. Dadurch wird ein körperlich sehr viel passenderer Defender auf Simmons abgestellt. Das Kreieren von Mismatches wird viel dadurch deutlich erschwert und der Vorteil von Simmons´ Einzigartigkeit entfällt somit.
Ein weiterer Aspekt, zu dem mich deine Einschätzung interessiert, betrifft Ben Simmons. Sowohl in den Top 100 Spielern für das Jahr 2019 von Sports Illustrated als auch beim ESPN Rank war Simmons mit Platz 26 und 18 relativ hoch platziert. Auf beiden Listen ist er deutlich der am besten platzierte Spieler mit so wenig NBA-Erfahrung (1 Jahr). Zach Lowe bezeichnete ihn darüber hinaus in seiner jährlichen Tier-Kolumne für alle Teams quasi schon als Superstar mit „near-term aspirations of becoming [a] top-10 two-way player“. Siehst du Simmons tendenziell im kommenden Jahr auch schon so gut, teilst du diese positive Einschätzung? Decken sich deine Erwartungen mit denen von ESPN oder SI? Wie stehst du ihm langfristig gegenüber? Außerdem: Wie ordnest du ihn in der Hierarchie bei den Sixers ein? Ich habe mit Leichtigkeit im jährlichen Sixers-Preview-Podcast eindeutig Embiid als wichtigstes Asset und klar besten Spieler des Teams bezeichnet, stehe damit aber in der Sixers-Gemeinde recht alleine da.
Max: Die hohe Platzierung von Simmons in den beiden Top-100-Listen kam für mich ziemlich überraschend, auch wenn ich ihn nicht viel weiter hinten eingeordnet hätte. Er ist aufgrund seiner All-NBA-Team-würdigen Defense gegen mehrere Positionen und der Fähigkeit, bei seiner Größe den Ball als primäre Option zu bringen, wohl ein klarer Top 40 Spieler, selbst wenn er sich in Zukunft nicht mehr verbessert. Jedoch sind Vorbehalte, ob er jemals ein Top-10-Spieler werden kann, durchaus angebracht. Zum einen sehe ich nicht, dass er jemals ein durchschnittlicher Werfer aus der Distanz wird, geschweige denn ein guter.
Zum anderen muss er sein Finishing verbessern, was sich aufgrund der Tatsache, dass er mit 73,3% getroffener Würfe (bei 528 Versuchen) am Ring eine sehr gute Quote wirft, auf den ersten Blick absurd anhört. Allerdings sieht man nach einem Blick auf die Zahlen, dass er noch viel zu oft aus der Floater-Range (3-10 Fuß Korbentfernung) abschließt (367 FGA), diese Würfe aber nur mit 40% trifft. Dies lässt sich einerseits dadurch erklären, dass Ben Simmons am Korb bevorzugt mit seiner rechten Hand abschließt und deswegen oft lieber schwerere Würfe mit rechts nimmt, um nicht mit der linken Hand abschließen zu müssen.
Andererseits liegt es daran, dass er oft Kontakt vermeiden wollte, um nicht so oft an die Freiwurflinie zu müssen, Simmons‘ dritte große Schwäche (56 FT%). Sollte er sich in einem dieser Bereiche signifikant verbessern, ist es vorstellbar, dass er bereits nächstes Jahr ein Top 25 Spieler ist. Eine realistischere Erwartung meinerseits ist allerdings, dass er eine ähnliche Saison wie in seiner Rookie-Kampagne spielt und sich wieder eher am hinteren Ende der Top 40 befindet.
Daraus lässt sich dann auch erahnen, dass ich Embiid (wie du) als das deutlich größere Talent ansehe. Embiid ist jetzt schon ein Top-10 Spieler, der gerade seine erste gesunde Offseason absolvierte. Wie Simmons hat auch er noch enormes Potential und ist noch nicht am Ende seiner Entwicklung angekommen. Simmons‘ absolutes Ceiling kann zwar höher eingestuft werden als Embiids, allerdings ist es realistischer, dass Embiid seine größte Schwächen (Conditioning/Decisionmaking) verbessert, als dass Simmons jemals seinen Dreier solide trifft. Letzteres in Verbindung mit dem, was Embiid bisher schon alles gezeigt hat, macht es für mich einfach, ihn als das größere Talent der beiden einzustufen.
Phil: Ich würde nicht so weit gehen und behaupten, Simmons sei overrated bei den nationalen NBA-Medien, aber ehrlich gesagt war ich auch sehr überrascht von Simmons´ Platzierungen. Du hast eigentlich schon alles Richtige und Wichtige vorweggenommen, weswegen hier jetzt nur noch ergänzt wird.
Führt man sich die Superstars und Top 10-15 Spieler der Liga vor Augen, zu denen Simmons alsbald gehören soll, so fallen zwei Dinge auf (der Bezug hier soll die letzte Ausgabe des Top 10 Spieler Podcasts von Go-to-Guys.de sein): Erstens ist nahezu jeder auf der Liste ein Spieler, der viel und effizient scort. Zweitens haben fast alle dieser Scorer einen mehr oder weniger zuverlässigen Wurf. Die moderne NBA diktiert eigentlich, dass nur jene Spieler (Super-)Stars werden, die einigermaßen gut per Jump Shot abschließen können.
Dabei sollte auch Shooting nicht als binärer Skill im Sinne von „kann“ und „kann nicht“ betrachtet werden. Shooting hat so viele Facetten: die Range kann variieren, man kann per Spot-up Catch & Shoot abschließen (was wohl die einfachste Form ist), Shooting aus der Bewegung kommend als Catch & Shoot und selbst kreierte Würfe aus dem Dribbling oder im Post. Die Stars dieser Liga meistern oft sogar die letztgenannten, schwierigsten Facetten des Shootings. Simmons hingegen bewies bis dato seine Fertigkeit in keinem der genannten Aspekte. Selbst bei vermuteter Verbesserung ist es eher unwahrscheinlich anzunehmen, dass er jemals ein effizienter Pull-Up-Werfer wird. Auf jeden Kawhi Leonard, der das Werfen in all seinen Facetten lernt, kommen geschätzt fünf Rajon Rondos oder Michael Carter-Williams, die dies nicht schaffen.
Ferner werden Stars auch dadurch definiert, dass sie konstant und effizient ihren eigenen Wurf kreieren können. Simmons konnte dies als Rookie nur bedingt und natürlich würde man von einem so jungen Spieler in Zukunft eine Entwicklung erwarten. Aber ohne Jump Shot ist es ungleich schwerer, sich einen Wurf aus dem Dribbling zu kreieren. Es bedarf dann hoher Freiwurfraten (und –quoten), einer effizienten Wurfauswahl und einer weit überdurchschnittlichen Trefferquote aus diesen Bereichen. Du hattest aber weiter oben genau jene Problemstellen schon analysiert (Freiwurf-Problematik und zu viele ineffiziente Würfe genommen). Im Endeffekt heißt das, dass Simmons einfach noch sehr viel Arbeit vor sich hat, ein produktiver und effektiver Scorer zu werden, als es in der NBA Medienwelt wahrgenommen wird.
Natürlich klingt das jetzt alles sehr negativ. Das soll es aber nur bedingt sein; es ist eher ein Tritt auf die Euphoriebremse. Vielleicht unterschätze ich auch Simmons´ Einzigartigkeit als Spieler. Womöglich kann er durch diese Einzigartigkeit ein primärer Initiator sein, der trotz Schwächen im eigenen Scoring ein Superstar sein, weil er immer und aus allen Situationen Offensive für andere kreieren kann. Es gab selten Spieler in der NBA, die mit dieser Größe (6-10) derartige Ballhandling- und Passing-Fähigkeiten, eine solche Geschwindigkeit und solche defensive Skills besitzen.
Abschließend sei noch zu ergänzen, dass die 76ers einen weisen Weg einschlügen, wenn sie den Fokus insgesamt eher auf die längerfristige als die kurzfristige Zukunft richten würden. Dies betrifft sowohl Lineup-Entscheidungen als auch Kader- und Spielerfragen. Natürlich sollte man so gut wie möglich zweigleisig fahren, aber in Anbetracht der Dominanz der Warriors und den wahrscheinlich noch leicht besseren Rockets, Celtics und Raptors hat die Zukunft von übermorgen noch Priorität.