Über die Entwicklung des Distanzwurfs in der laufenden Saison
Es hat sich schon zu einer Art Routine entwickelt, dass die NBA ständig neue Rekorde in Sachen Dreipunktwurf ausrufen kann. Allein Stephen Curry hat in den vergangenen vier Jahren drei Mal den Rekord für die meisten Treffer aus der Distanz gebrochen. Als Bonus erreichte er diese Saison nicht nur den 50/40/90-Club (FG%, 3P%, FT%), sondern eröffnete einen neuen mit 45% 3P% – dessen einziges Mitglied er logischerweise ist. Aber Curry hat die Entwicklung nicht alleine zu verantworten. Auch Klay Thompson traf in der abgelaufenen Regular Season öfter aus der Distanz als irgendein Spieler in der Geschichte der Liga mit Ausnahme seines Teamkollegen. Die Cavaliers haben sich die rekordverdächtigen Dreipunkt-Performances für die Playoffs aufgehoben, wo sie in Spiel 3 der Hawks-Serie 25 mal trafen; öfter als je ein Team in einem Spiel der Playoffs oder der Regular Season. Der bisherige Playoff-Rekord lag beispielsweise bei gerade einmal 21 – aufgestellt ebenfalls dieses Jahr von den Warriors in der ersten Runde gegen die Rockets und nochmal wiederholt von den Cavs in Spiel 4 gegen die Hawks.
Auch wenn sich diese Beispiele auf zwei Teams beschränken: Vermutlich befinden wir uns tatsächlich an einem Punkt, der einen Dammbrucheffekt bei den Distanzwürfen darstellt. Die im Winter aufgrund von Currys Performances aufgekommene Debatte um eine weiter vom Korb entfernte Dreipunktline oder ähnliche Anpassungen verdient vermutlich tatsächlich Beachtung. Die Pseudo-Argumente der Traditionalisten, die Distanzwürfe als unattraktiv darstellen und die vermeintliche Überlegenheit des 90ies-Basketballs feiern, sollten dabei keine Berücksichtigung finden. Vielmehr geht es um das Problem, dass in den nächsten Jahren die Balance zwischen Offense und Defense zerbrechen könnte.
Auf der Suche nach dem Gleichgewicht
Was hat es mit dieser Balance auf sich? Offensichtlich passten NBA-Coaches parallel zum stärkeren Fokus auf Distanzwürfe auch ihre Defensivkonzepte an. Auf beiden Seiten des Courts entwickelt sich das Spiel ständig weiter: Gegen Ideen wie Nellie Ball, SSOL (Seven Seconds or Less) und Morey Ball stehen umgekehrt beispielsweise Thibodeaus Schemata und die gesamten Veränderungen, die mit der Aufhebung des Zonen-Defense-Verbots möglich wurden. Auch wenn nicht zwingend alle Neuerungen sofort ihre Antwort finden, sollte so zumindest ein mittelfristiges Gleichgewicht gewahrt bleiben. Das war in den letzten Jahren in der NBA tatsächlich größtenteils der Fall, wie die folgende Grafik zeigt.
Trotz des stark steigenden Anteils an Distanzwürfen blieb die ligaweite eFG% weitgehend konstant. Nur in der Lockout-Saison ist eine Abweichung von mehr als 0,5 von 50% zu verzeichnen. Auch wenn sich beispielsweise eine wachsende Kluft zwischen den besten und den schlechtesten Teams so nicht abbilden ließe, machen die Zahlen für diesen Zeitraum eine relativ brauchbare Balance plausibel. Das heißt, auch wenn der Zusammenhang von Dreiern und guter Offense – wie hier beschrieben – nicht problemlos zu belegen ist: Ohne eine gesteigerte Zahl von Treffern aus der Distanz hätte sich das Spiel aller Wahrscheinlichkeit nach in eine defensivfokussierte Richtung entwickelt. Aus diesem Grund sind auch alle möglichen Anpassungen gegen die steigende Zahl an Dreipunktwürfen mit Vorsicht zu genießen. Eine Überreaktion würde riskieren, der Attraktivität der Liga zu schaden. Allein finanziell dürften Ligaspitze, Besitzer und Spieler daran kaum Interesse haben – zumal Curry, der Protagonist dieser Entwicklung, sich in den letzten Jahren zum wohl beliebtesten Spieler seit Michael Jordan entwickelt hat.
Curry, die Warriors und mehr
An Curry und seinen Warriors hängt logischerweise ein Großteil des Dreipunkt-Trends. Vor der Meisterschaft im vergangenen Jahr galten Teams als wenig erfolgversprechend, deren Franchise Player ein Spieler seiner Größe ist. Seit Isiah Thomas 1990 mit den Pistons konnten in Chauncey Billups und Tony Parker nur zwei Point Guards Finals MVP werden, die beide nicht der unumstritten beste Spieler ihres Teams waren. Auch wenn Curry (noch) nicht die Trophäe des Finals MVPs gewinnen konnte, innerhalb der letzten 12 Monate wurde er Meister, ohne Gegenstimme MVP der Regular Season und entwickelt sich zum Gesicht der Liga – auch dank seiner teilweise absurden Dreier. Es dürfte daher nicht überraschen, dass Curry und die Warriors zwei der größten Ausreißer produzieren und dafür die größte Aufmerksamkeit erfahren. Die folgenden beiden Diagramme zeigen jeweils die besten 20 Saisonleistungen von Spielern beziehungsweise Teams bei den getroffenen Dreipunktwürfen, jeweils mit dem angesprochenen Spitzenteam
Zuerst die Spieler-Übersicht, die viele der zu erwartenden Namen beinhaltet. Wie bereits angesprochen kann nur Thompson in die Curry-Spitzenpositionen einbrechen und ebenfalls Ray Allens Rekord noch aus der Saison 2005/06 brechen. Die übrigen älteren Werte stammen größtenteils aus der Zeit mit verkürzter Dreipunktline und sind deshalb relativ wenig aussagekräftig. Zwei Informationen sind besonders auffällig: Zum einen, dass sich in der gerade abgelaufenen Saison neben Curry und Thompson auch noch James Harden und Damian Lillard eintragen konnten. Diese Häufung findet sich in keinem anderen Jahr und zeigt, dass der Dreipunkt-Trend eine neue Qualität erreicht hat. Noch bemerkenswerter ist natürlich die absurde Steigerung, die Curry in der vergangenen Saison gelang: Nach den relativ gleichmäßig steigenden Plätzen 20 bis 2 erfolgt ein Sprung von 100 Treffern.
Bei den Teams ist dieser Sprung vom Rest der Liga-Geschichte zu den Warriors nicht ganz so auffällig, aber trotzdem klar sichtbar. Noch bemerkenswerter als die reine Zahl ist hier jedoch die zeitliche Häufung: 13 der 20 gelisteten Team-Saisons stammen aus den letzten beiden Jahren, unter anderem die letztjährige Rekordsaison der Rockets. Selbst Durchschnittsteams wie die Mavs oder Hornets haben sich dem Trend angeschlossen, ohne, dass dies groß thematisiert würde. Die Gewöhnung an Rekorde und steigende Dreier-Zahlen generell – wie von Dennis Spillmann schon vor drei Jahren thematisiert – reduziert die Aufmerksamkeit gerade für Entwicklungen in der zweiten Reihe.
Die Cavs und die laufenden Playoffs
Wie schon angesprochen endeten die Rekord-Zahlen nicht in der Regular Season. Vor allem die Cavaliers treffen in den Playoffs jenseits normaler Dimensionen und, erstaunlicherweise, auch deutlich besser als die Warriors in den letzten Jahren. Ohne Currys Verletzung wäre dieser inoffizielle Wettkampf diese Postseason vermutlich ausgeglichener verlaufen, die Zahlen sind allerdings in jedem Fall beeindruckend.
Die relativ kurze Liste von Teams mit durchschnittlich mehr als 10 Treffern aus der Distanz pro Spiel zeigt vermutlich noch besser als die oberen Diagramme, dass die laufende Saison nochmal eine deutliche Beschleunigung des Dreier-Trends bedeutet hat. Bis 2015 einschließlich konnten sich nur die We Believe-Warriors und drei bekanntermaßen sehr wurffreudige Teams der letzten Jahre in die Liste eintragen. 2016 stehen bisher ganze vier Teams bei über 10 3PM/G. Hawks und Blazers können sich auch nicht mehr verschlechtern, bei Warriors und Cavs ist es zumindest unwahrscheinlich, dass sie die Marke reißen. Schon die Blazers hätten – wiederum ohne größere Aufmerksamkeit – über immerhin 11 Spiele alle bisherigen Werte sowohl in Volumen als auch Effizienz verbessert. Warriors und Cavs treffen allerdings nochmal besser und öfter: Cleveland konnte als Spitzenwert in den beiden Sweeps 16,8 Treffer bei einer Quote von 46% verbuchen. Wie hier angesprochen, trug diese Leistung erheblich zu den relativ bequemen Seriensiegen bei. Die Defensive insbesondere der Hawks kam zwar mit einigen fragwürdigen Rotationen und Double Teams dem Cavs-Shooting entgegen, aber trotzdem sollte die Leistung nicht mit Verweis auf zu schwache Gegner abgetan werden: Die Hawks waren in der Regular Season hervorragende Zweite in defensiver Effizienz, die Pistons immerhin noch in der oberen Hälfte (13.). In den vermutlich noch folgenden beiden Playoffrunden dürften die Cavs ihre bisherigen Dreier-Werte nicht halten können, aber auch eine erheblicher Regression zur Mitte dürfte noch für einen Rekordwert reichen – wenn sich nicht Steph Curry und die Warriors stattdessen den Spitzenplatz sichern.
Und in Zukunft?
Wie die Beispiele zeigen, sind Curry und Golden State die Protagonisten des Dreipunkt-Trends, aber eindeutig nicht die einzigen Vertreter. Die ganze Liga verändert sich, was insbesondere in der abgelaufenen Saison auf vielfältige Art und Weise zu sehen war. Der ungebrochene Small Ball-Trend beruht offensichtlich auf der Bedeutung des Distanzwurfs, trotzdem deutet sich ein gewisser Gegen-Trend an: Big Men mit Wurf, die ein deutlich vielfältigeres Skillset mitbringen als die bisherigen Stretch Bigs. Spieler wie Ryan Anderson oder Channing Frye weisen kaum andere Skills auf, die sie für die NBA qualifizieren. Das ändert sich, besonders auffällig in Person der drei besten Rookies der Saison. Rookie of the Year Karl-Anthony Towns, der zu Saisonbeginn gefeierte Kristaps Porzingis wie auch der weniger beachtete Nikola Jokic trafen zumindest 33% ihrer Distanzwürfe bei nicht völlig zu vernachlässigendem Volumen (mindestens 1 3PA/G). Gleichzeitig entwickeln sich auch Veteranen weiter, was vielleicht die noch wichtigere Beobachtung ist: Spieler der Bandbreite von Al Horford bis Kris Humphries haben nach mehreren Jahren in der Liga noch den Distanzwurf als zusätzliche Waffe hinzugefügt.
Insgesamt sind am 3-Punkt-Trend also gleichermaßen junge wie alte Spieler beteiligt, Guards, Wings und Big Men, ein Großteil der Teams mit jeweils unterschiedlichen Herangehensweisen – und, wie die Beispiele gezeigt haben, seit diesem Jahr in einer zuvor nicht gekannten Qualität. Die Grafiken mit dem jeweils erheblichen Sprung zwischen Curry, den Warriors beziehungsweise den Cavs und dem Rest des Feldes visualiseren dies. Zwar hat sich die Balance zwischen Offense und Defense in der laufenden Saison noch nicht gravierend verschoben, eine solcher Dammbruch zeichnet sich durch die massiv gestiegenen Dreipunkt-Werte jedoch ab.
Die Frage ist, welche Adaptionsmöglichkeiten Franchises und Liga haben. Natürlich sollten alle Teams ihre Defense bereits so gut wie möglich auf wurfstarke Gegner einstellen, hier ist das Potential für große Änderungen entsprechend gering. Falls auch die letzten GMs im Teambuilding stärker auf Distanzschützen setzen, könnten zumindest leichte Ausgleichseffekte eintreten – der Pool dieser Spieler ist schließlich immer noch begrenzt. Allerdings hat sich die Liga schon stark in diese Richtung bewegt, so dass auch hier nur minimale Verschiebungen zu erwarten sind.
Zuletzt bleiben also Regeländerungen, wie sie spätestens seit dieser Saison immer lauter gefordert wurden. Der Haken ist, dass viele Anpassungen entweder kaum durchzuführen sind oder gravierende Folgeprobleme nach sich ziehen. Beispielsweise werden vermutlich weder Franchise-Besitzer noch Spieler die Einnahmeverluste durch ein vergrößertes Spielfeld (und damit weniger Zuschauerplätze) akzeptieren. Daher ist es kaum möglich, die Dreipunktlinie allgemein weiter vom Korb zu entfernen. Curry wäre angesichts seines hervorragenden Wurfs aus noch größeren Entfernungen ohnehin vergleichsweise wenig eingeschränkt, während andere Spieler massiv unter der Änderung leiden würden. Auch die durch eine Vergrößerung des Courts möglicherweise grundlegend veränderte Dynamik des Spiels ist kaum abzuschätzen. Die naheliegende Regeländerung betrifft daher die Corner Threes, wo von den Quoten her ohnehin das größte Missverhältnis besteht. Hier sind Anpassungen ohne Umbau möglich, die den Platz in der Ecke und damit die Chancen auf die einfachsten Dreier reduzieren. Indirekt würden damit auch alle anderen Distanzwürfe geschwächt, weil Help-Defender weniger Raum abdecken müssten. Ob so radikale Änderungen überhaupt nötig sind, werden die nächsten Jahre zeigen…